Westwind aus Kasachstan
Holz, um sich abzureagieren.
Darüber war nun über ein halbes Jahr vergangen. Nur einmal waren sich Iwetta und Wolfgang Antonowitsch begegnet. Weberowsky fuhr mit seinem Traktor nach Atbasar und überholte auf der Straße Iwetta, die mit dem Rad auf dem Weg zu der fabrikeigenen Siedlung war, wo sie ein Zimmer bewohnte.
Sie sahen sich an, Weberowsky nickte knapp, fuhr weiter und ließ sie in einer Staubwolke zurück. Aber zweihundert Meter weiter sah Iwetta den Alten am Straßenrand stehen, als habe der Motor des Traktors versagt. Als sie an ihm vorbeifuhr, hörte sie Weberowsky rufen.
»He! Iwetta!« rief er. »Halt an! Bleib stehen!«
Sie bremste, stieg vom Rad und kam zu ihm zurück. Ihr leicht verkniffener Mund zeigte an, daß sie einen Streit nicht scheute.
»Hier bin ich«, sagte sie mit fester, heller Stimme. »Was willst du von mir, Wolfgang Antonowitsch?«
»Du kommst von der Arbeit?«
»Ja.«
»Müde mußt du sein.«
»Man kann es ertragen.«
»Aber das Radfahren strengt an.« Weberowsky blickte über sie hinweg, als spräche er gegen den Horizont. »Steig auf, ich bringe dich nach Hause.«
»Soviel Kraft habe ich noch, um zur Siedlung zu kommen.«
»Steig auf, verdammt noch mal!« Er sprang vom Sitz, ergriff das Fahrrad und hängte es an einen Haken hinten am Traktor.
»Wenn du nach Atbasar willst – zur Siedlung ist's ein Umweg.«
»Red nicht so dumm!« Der Alte kletterte wieder in den Fahrerverschlag – es war ein Traktor mit einer abnehmbaren Kabine – und reichte Iwetta die Hand hinunter. »Komm rauf!«
Sie ließ sich hinaufziehen und klemmte sich neben Weberowsky auf die enge Sitzbank mit dem Kunstlederpolster. Der Motor sprang fauchend an, mit einem höllischen Rattern setzte sich der Traktor in Bewegung.
»Danke!« schrie Iwetta in den Lärm hinein. An irgendeinem Gestänge klammerte sie sich fest.
»Wofür?« brüllte Weberowsky zurück.
»Erst schleuderst du eine Staubwolke über mich, und dann nimmst du mich mit.«
»Ich bin nicht verantwortlich für die russischen Straßen.«
»Habt ihr in Nowo Grodnow etwa gepflasterte Straßen?«
Weberowsky schwieg, doch plötzlich drehte er den Kopf zu ihr und sah Iwetta voll an.
»Liebst du meinen Sohn?« fragte er.
»Ja. Mehr als alles auf der Welt.«
»Und warum willst du ihn zum Russen machen?«
»Warum zwingst du ihn, so wie du zu denken?«
Weberowsky antwortete darauf nicht. Stumm fuhren sie bis zur Siedlung, wortlos holte der Alte Iwettas Rad vom Haken, wortlos kletterte er wieder in die schmale Kabine. »Gute Fahrt, Wolfgang Antonowitsch!« rief Iwetta zu ihm hinauf und hob die Hand.
Er nickte stumm und fuhr davon.
Sie ist ein Luder, dachte er. Ein ganz verdammtes Luder, aber ein mutiges Luder. Sie paßt in dieses Leben. Doch vorsichtig mußt du sein, Hermann, mein Junge. Laß dir keine Pantoffeln anziehen. Verflucht, eine hübsche Teufelin ist sie!
Es blieb, wie gesagt, die einzige Begegnung. Das Haus der Weberowskys hatte Iwetta bis jetzt noch nicht betreten. Sie wartete auf eine Einladung von Wolfgang Antonowitsch. Aber eher hätte sich der Alte die Zunge abgebissen oder einen Finger abgehackt, ehe er einen Brief geschrieben hätte: Liebe Schwiegertochter, wir erwarten dich morgen zum Abendessen.
»Sie kommt von allein!« sagte Weberowsky zu seiner Frau. »Dafür wird Hermann sorgen, wenn er ein richtiger Kerl ist.«
Das änderte sich nach Kiwrins Besuch und dem endgültigen Bekanntwerden der neuen Moskauer Pläne. Jetzt stand es in allen Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen sendeten Kommentare, interviewten einige Deutschrussen, sogar historische Filme grub man aus, Dokumente einer stalinistischen Willkür und eines abgrundtiefen Hasses: Die Vertreibung der Wolgadeutschen nach Sibirien und Zentralasien.
Nun wußten es alle: Wir können nach Deutschland, das Land unserer Ahnen, oder wir dürfen zurück an die Wolga, das Land unserer Väter. Die Welt ist frei und offen geworden.
Glasnost und Perestroika.
Hat Gott uns Gorbatschow geschenkt? Lenins und Stalins Werk zerbricht, und bald werden die Trümmer nur noch Staub sein, der in der Weite des Landes verweht.
Hermann und Iwetta trafen sich wie immer in einem Lagerraum der Konservenfabrik.
Der Leiter des Kombinats, der etwas fette und gemütliche Valeri Daniilowitsch Worobjow, hatte ihn zur Verfügung gestellt und sogar ein altes Sofa hereinschaffen lassen.
»Man ist doch Mensch!« hatte er zu Hermann gesagt. »Und jung war man auch mal: Zu dir, Hermann
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