Westwind aus Kasachstan
Kiwrin reagieren? Gorbatschow und Jelzin wollen Freundschaft mit Deutschland.«
»Ich nicht!« rief die Beljakowa trotzig.
»Aber du bist nicht an der Regierung.«
»Hier regieren du und ich, Semjon Bogdanowitsch! Und Kiwrin. Ein elender Opportunist ist er! Früher ein Wolf, heute ein Hündchen, das auf den Hinterpfoten tanzt. Nur, weil er an seinem Stuhl als Bezirkssekretär klebt. Dafür ließe er sich sogar kastrieren! Soll er nur zu mir kommen und den Mund aufmachen, wundern wird er sich, was ich ihm sagen werde! Wir brauchen keine Angst mehr zu haben vor sowjetischen Beamten. Kiwrin ist für mich nur ein Speichellecker.«
»Katja …!«
»Wir haben im Krieg noch ganz andere Sachen gesagt.«
»Vergiß doch endlich den Krieg.«
»Vergessen? Wie kann ich das vergessen?« Sie schloß einen Moment die Augen, als rufe sie aus ihrem Inneren Bilder ab, schreckliche Bilder, die ein Vergessen unmöglich machten. Als sie die Augen wieder öffnete, hatten sie einen anderen Ausdruck – Trauer und Verzweiflung.
»Druckst du das Flugblatt?« fragte sie. Ihre Stimme war rauh und gedämpft.
»Ja, Katja.«
»Dann ist es gut. Das ist der erste Aufruf, es kommen noch mehr. Ich will sie laufen sehen, die Deutschen … laufen, mit der Angst im Nacken!«
Schon dieses erste Flugblatt stiftete Verwirrung, Empörung und Zustimmung. Es kam auf die Seite an, auf der man stand.
Bei Kiwrin, dem man solch ein Blatt auf den Tisch legte, war die erste Reaktion: Das habe ich erwartet. Das lag wie ein Gewitter in der Luft. Was kann man dagegen tun? Meine Pflicht ist es, etwas zu tun. Und dann die Verwirrung: Woher kommt das Flugblatt? Wer hat es fabriziert? Entsteht irgendwo zentral eine Bewegung gegen die Deutschen? Aber wo? In Karaganda? In Semipalatinsk? Oder gar in der Hauptstadt Alma-Ata? Wenn es von daher kommt, ist es besser, zu schweigen und zur Seite zu schauen. Hieß es früher: Tu alles, was Moskau will, so heißt es jetzt: Richte deinen Blick nach Alma-Ata und folge dem, was du siehst. Laß die Höheren für dich denken, und du lebst ruhiger.
Es war Gottlieb, der das Flugblatt nach Hause brachte und dem alten Weberowsky auf den Abendbrotteller legte. Erna ahnte nichts Gutes, wartete mit dem Ausschenken der Milchgrießsuppe und blickte aus der Küche auf ihren Mann. Weberowsky las bedächtig den Aufruf, sagte zu aller Verblüffung kein Wort und legte das Flugblatt zur Seite. Schweigen herrschte um ihn herum, bis er sich zurücklehnte und rief:
»Mutter, komm mit der Suppe. Ich habe einen gewaltigen Hunger!«
»Ist das alles, Vater?« fragte Gottlieb provokant.
»Ein richtiger Hunger reicht mir!«
»Sie hassen uns, Vater.«
»Das tun sie seit fünfzig Jahren. An ihren Haß haben wir uns längst gewöhnt. Du siehst, man kann damit auskommen.«
»Aber bisher war er schleichend, unter der Oberfläche. Jetzt bricht er voll aus!«
»Durch ein einziges Flugblatt? Gottlieb, seit wann bist du so schreckhaft?«
»Es wird nicht das einzige Flugblatt sein.«
»Warten wir es ab.«
»Wer kann so eine Schweinerei drucken? Warum soll uns die Schuld an dem treffen, was die Deutschen Rußland angetan haben?«
»Das Hitler-Deutschland, nicht wir Deutschen! Wir haben schon einmal für das andere Deutschland gebüßt, als man uns 1941 von der Wolga nach Sibirien verjagte. Jetzt will man uns mit den alten Parolen aus Kasachstan wegtreiben, aber sie irren sich. Wir gehen freiwillig.«
»Du gehst, Vater.«
»Das letzte Wort der Lebenden ist meist nie das letzte Wort. Auch deins nicht.«
»Doch, Vater. Niemand auf der Welt kann mir das bieten, was ich in Moskau bekomme: Ein kostenloses Medizinstudium.« Gottlieb hob das Flugblatt hoch und wedelte mit ihm durch die Luft. »Wer druckt so etwas?«
»Das ist kein Druck, das ist eine Fotokopie. Und in der ganzen Umgebung gibt es nur ein Kopiergerät: Zirupa hat es.«
»Du meinst …«
»Ich weiß es fast sicher.«
Weberowsky beschloß, in der nächsten Woche nach Atbasar zu fahren und mit Kiwrin zu sprechen. Vielleicht wußte Michail Sergejewitsch mehr und konnte weitere Aktionen unterbinden. Aber dazu kam es nicht mehr. Schon vier Tage später wurde im Land ein zweites Flugblatt verteilt, in dem es hieß:
»Väter, Brüder und Söhne! Die Regierung in Moskau will den Deutschen, die endlich Kasachstan verlassen, neues Land an der Wolga schenken. Wir empfinden Abscheu gegen diesen Plan und Mitleid mit unseren Brüdern an der Wolga. Werden wir die Deutschen denn niemals los? Es gab
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