Westwind aus Kasachstan
Andrej Valentinowitsch Frantzenow. Was man nicht wußte: In dem Sarg lagen 76 Kilogramm Flußsteine. Beten wir für die Flußsteine.«
Nurgai atmete schwer, beugte sich dann über den Tisch und blies die kleine Kerze aus. Die Ikone klappte er nicht zusammen, er ließ sie stehen.
»Was soll dieses Theater, jetzt, nach neun Jahren«, sagte er hart.
»Sie haben es also gewußt, Nurgai?«
»Es war die einzige Möglichkeit, Sie ohne Aufsehen verschwinden zu lassen. Einem Sarg und einem prunkvollen Begräbnis mit vielen guten Reden glaubt man immer. Nur so kamen Sie zu der Ehre, in Kirenskija zu arbeiten.«
»Ehre, sagen Sie? Ehre! Sind alle Kollegen hier in der Stadt Tote?«
»Nein. Nur Sie. Sie waren eine internationale Berühmtheit, die sich nicht einfach in Luft auflösen kann. Wir waren gezwungen, die Welt zu täuschen.«
»Ohne mich zu fragen –«
»War das nötig?«
»Und meine Menschenrechte? Wie heißt es im Lied, das sich die Internationale nennt: … die Internationale erkämpft das Menschenrecht … Das war für uns alle wie ein zweites Vaterunser. Wir haben es mit glühendem Herzen gesungen und daran geglaubt. Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht –«
»Ihr Tod war Ihr letztes Gefecht«, sagte Nurgai ironisch. »Sie haben Ihrem Vaterland damit gedient. Sie sind ein Prachtexemplar von einem Russen.«
»Sie haben mich vom Leben abgeschnitten. Ich habe eine Schwester, die mir immer nach Moskau geschrieben hat. Plötzlich hörten die Briefe auf. Ich dachte, mein Schwager hätte es verboten, jetzt weiß ich, daß sie immer und immer wieder geschrieben hat. Wo sind die Briefe?«
»Sie wissen: Nach Kirenskija kommt keine Privatpost. Wie kann in einer Stadt Post ankommen, die es nicht gibt?« Nurgai zog die Augenbrauen zusammen und sah Frantzenow geradezu böse an. »Sie scheinen bis heute, neun Jahre lang, nicht begriffen zu haben, wo Sie sich befinden! Sie zitieren die Internationale. Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Andrej Valentinowitsch! Es ist ein Lied für die Massen, aber kein Programm! Unser Programm ist es, in der Atomforschung führend zu sein, da haben persönliche Interessen keinen Platz mehr.«
Frantzenow drehte die Reise-Ikone zu sich herum. Es war, als spräche er jetzt mit den Heiligen, die in das Mittelstück geprägt waren.
»Vor elf Jahren lernte ich eine Frau, Raissa Petrowna, kennen und lieben. Wir wollten heiraten. Dann wurde ich plötzlich nach Kirenskija gebracht, so schnell, daß ich ihr nur noch einen Brief schreiben konnte. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich habe geglaubt, daß sie meine Versetzung als Flucht ansah … ich habe ihr mindestens zwanzig erklärende Briefe geschrieben. Jetzt weiß ich, daß kein Brief sie erreicht hat.«
»So ist es.«
»Hat sie meinen Abschiedsbrief bekommen, den ich in Moskau hinterlassen habe?«
»Natürlich nicht. Aber Raissa Petrowna war bei Ihrem Begräbnis dabei … und Tote schreiben keine Briefe. Ich nehme an, sie pflegt jetzt Ihr Grab.«
»Sie sind das schmutzigste Schwein, das ich kenne, Nurgai!«
»Beschimpfen Sie mich nur … ich habe eine Haut wie Wachstuch. Es tropft alles ab. Denken Sie, Sie wären der einzige, der Opfer gebracht hat, um in Kirenskija zu arbeiten? Ich habe mich – angeblich war ich in Perm – von meiner Frau scheiden lassen müssen und habe drei prächtige Kinder verlassen. Was aus ihnen geworden ist, weiß ich nicht. Man hat in Moskau versprochen, für sie zu sorgen. Ich bin für die Öffentlichkeit verschwunden, aber das kümmert keinen. Bei Ihnen und Ihrem Ruf war das anders. Ich wiederhole mich: Wir mußten Sie sterben lassen. Für Rußland. Sie galten immer als guter Russe, aber ich sehe, daß der Deutsche doch tiefer in Ihnen sitzt.«
»Ich hätte es nie geglaubt, Kusma Borisowitsch.« Frantzenow klappte die Reise-Ikone zusammen und steckte sie wieder in seine Rocktasche. »Aber Sie und das, was man mit mir gemacht hat, wecken in mir den Drang, mich mit meinen Ahnen zu befassen. Geht jetzt Post ab von Kirenskija?«
»Wenn schon die Amerikaner hier herummarschieren, sind wir kein Geheimnis mehr.« Nurgai erhob sich und rafft seinen Bademantel zusammen. »Woher wissen Sie überhaupt, daß Sie tot und begraben sind?«
»Von Captain Tony Curlis.«
»Interessant! Und woher weiß er das?«
»Aus den Akten des CIA.«
»Das heißt, die Amerikaner haben nie geglaubt, daß Sie gestorben sind.« Nurgai hob warnend die Hand. »Andrej Valentinowitsch, ich warne Sie.
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