Westwind aus Kasachstan
Tante nach Rußland schreibt. So einfach kann bei uns Spionage betrieben werden! Wir observieren jahrelang tote Briefkästen und Agentenführer … und die Bundespost befördert unterdessen ein Staatsgeheimnis nach dem anderen.«
»Es gibt keine gesetzliche Handhabe, Briefe nach Rußland zu kontrollieren. Sie sind unantastbare Privatsphäre. Unser Grundgesetz, Kallmeier. Und eine Ausnahmegenehmigung? Zu spät. Köllner ist auf dem Weg nach Moskau. Das ist mir jetzt klar.« Der Präsident beugte sich etwas vor. »Wie gehen Sie weiter vor, Herr Kallmeier?«
»Wir werden uns jetzt intensiv um Professor Frantzenow und vor allem um diese Erna Weberowsky kümmern.« Kallmeier atmete wieder tief durch. »Ein Idealfall wäre es, wenn sich die Weberowskys für eine Übersiedlung nach Deutschland melden.«
»Wenn Ihr Verdacht greift … so dumm werden sie nicht sein.«
»Es ist alles möglich, Herr Präsident.« Kallmeier nahm die CIA-Meldung wieder an sich. »Möglich ist sogar, daß der Ehemann von der Tätigkeit seiner Frau nichts weiß.«
Im Kulturzentrum von Ust-Kamenogorsk saß Weberowsky dem Sprecher der Rußlanddeutschen, Ewald Konstantinowitsch Bergerow, gegenüber. Er war nicht der einzige, der den weiten Weg auf sich genommen hatte, um Klarheit zu bekommen. Man wußte nur, daß alles nicht so einfach war, wie es sich anhörte. Man konnte sich nicht in ein Flugzeug oder einen Zug setzen, eine Fahrkarte nach Deutschland lösen und losfahren. So, wie ein Deutscher von Hamburg nach München fahren kann. Man mußte erst beweisen, daß man überhaupt ein Deutscher und nicht in den vergangenen zweihundert Jahren zu einem Russen geworden war. Um diesen Beweis zu erbringen, hatte man in Bonn mit deutscher Beamtengründlichkeit einen Fragebogen erstellt, der vierundfünfzig Seiten umfaßte und Fragen stellte, die von den meisten der Rußlanddeutschen nicht beantwortet werden konnten. Dieser ›Antrag auf Aufnahme als Aussiedler‹, wie er amtlich hieß, zeigte sich voller Fallen, und wer in eine von ihnen hineintappte, bekam seinen Antrag zur ›Vervollständigung‹ zurück und mußte sich hinten wieder anstellen.
Es war schwer, so etwas den Menschen zu erklären, die nichts als in die Heimat ihrer Urväter zurückwollten. Bergerow hatte sich die Mühe auf den Hals geladen, den Hoffenden die bittere Wahrheit zu verkaufen. Für die Deutschen müßt ihr erst beweisen, daß ihr Deutsche seid.
Bergerow hatte sich eine Methode ausgedacht, wie man seine Landsleute aufklären könnte. Nicht jeden einzeln, das überstieg seine Zeit. Er hielt zweimal pro Woche eine Versammlung ab, in der er mit einem langen Vortrag alle Probleme anpackte und dann eine Diskussion anbot. Das war immer der kritischste Teil des Abends. Was er hier zu hören bekam, sollten doch einmal die Bonner Politiker und die Landesbehörden zu Ohren bekommen. Vor allem die deutschen Bundesländer gaben sich zugeknöpft. Wohin mit den Brüdern aus dem Fernen Osten? Von Hunderttausenden, vielleicht sogar von einer Million war neuerdings die Rede, wenn man den Zahlen der Allunionsgesellschaft ›Wiedergeburt‹ glauben konnte. Deutschland ist dicht. Allein fünf Millionen Ausländer leben hier, täglich kommen Hunderte von Asylbewerbern in die Sammellager, in einem Monat bis zu 20.000. Und nun wollen auch noch die Rußlanddeutschen hinein, wollen Wohnung, Arbeit, Sozialleistungen. Woher nehmen, wenn die Kassen leer sind und der Wohnraum ausgeschöpft ist? Sollen auf jedem noch freien Platz der Städte und Gemeinden Container aufgestellt werden, in die man die Menschen hineinstopft und ihnen sagt: Ihr wolltet es ja nicht anders. Warum seid ihr nicht auf euren schmucken Höfen in Kasachstan geblieben? Warum wolltet ihr nicht zurück an die Wolga? Was hat euch nach Deutschland getrieben? Armut? Nein! Politischer Druck? Nein! Was also? Nur eins: Die große Hoffnung, in ein Paradies zu kommen.
Das alles wurde natürlich nicht ausgesprochen, aber es bestimmte die Handlungen bei der Bearbeitung der Anträge. Bergerow sah das alles, und er sagte es auch seinen Landsleuten mit dem Erfolg, daß man ihn in den Bonner Ministerien einen Aufhetzer, einen Agitator, einen Volksaufwiegler nannte.
Weberowsky hatte den langen Vortrag wortlos mit angehört. Während sich die anderen empörten, dazwischenschrien und im Sprechchor »Wir sind Deutsche! Wir sind Deutsche!« brüllten, was ja nur Bergerow und nicht die Politiker am Rhein hörten, wartete er ab, bis Bergerow erschöpft
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