Westwind aus Kasachstan
würde euch für Geld mein Rußland in euren Sack stecken? Euer Ausspruch: Alles ist käuflich, es kommt nur auf die Summe an, hat bei mir seine Grenzen. Was sind eure Millionen gegen meine Liebe zu Rußland? Ihr müßtet auch mein Herz kaufen. Und welcher Russe verkauft sein Herz?
Er trank zwei grusinische Kognaks, stellte dann das Stadtradio an und freute sich, daß man klassische Musik sendete. Er setzte sich in den Sessel, streckte die Beine von sich, rutschte etwas nach vorn und genoß die Musik.
Nach einer Weile rutschte er noch ein wenig mehr nach vorn und lag schon halb in seinem Sessel. Es waren lebensrettende Zentimeter. Im gleichen Augenblick, als das Orchester neu einsetzte, splitterte hinter ihm die Scheibe eines Fensters. Ein dumpfer Knall, wie ein Schuß aus einem Schalldämpfer, übertönte die Musik, und ganz knapp über Frantzenows Kopf hinweg zischte eine Kugel und schlug in der Wand ein. Vor einer Sekunde noch hätte sie von hinten seinen Schädel durchschlagen.
Frantzenow ließ sich sofort auf den Boden fallen, rollte sich zur Seite, warf den Tisch mit der Kognakflasche um und suchte hinter der Tischplatte Schutz. In diesem Augenblick handelte er nicht überlegt, sondern instinktmäßig. Erst als er hinter der Holzplatte lag und auf den zweiten Schuß wartete, begann er wieder zu denken.
Ist die Platte dick genug, die Kugel aufzufangen? Und: Wer schießt auf mich? Warum will man mich umbringen, hier in Kirenskija, und: Ist es Sabotage oder ein Befehl? Liquidiert den Mann, der zuviel weiß! Was hat sich eigentlich geändert seit Stalin?
Bitterkeit stieg in ihm hoch. Er lag flach auf dem Boden, den Tisch über sich und wartete auf seinen Tod. Im Radio dröhnte die Musik.
Er blickte auf seine Uhr, in zehrt Minuten kam Tony Curlis. Und plötzlich bekam er Angst. War für Curlis der zweite Schuß aufgehoben? Wußte jemand von Curlis' Auftrag und wollte verhindern, daß ein solches Gespräch zustande kam? Natürlich, es würde einen ungeheuren Skandal geben. Ein amerikanischer Offizier der Abrüstungsdelegation wird in einer bisher geheimgehaltenen russischen Atomstadt erschossen. Und mit ihm der Mann, der die Geheimnisse im Kopf mit sich trug. Einen Augenblick würde die Welt empört sein, aber nur einen Augenblick, dann ging der Alltag weiter.
Frantzenow kroch hinter seinem Tisch hervor, richtete ihn wieder auf, rückte die verschobenen Möbel zurecht, lief in die Küche, holte Handfeger und Schaufel und kehrte die Glassplitter zusammen.
Jetzt hätte er mich gut im Visier, dachte er. Schieß doch, du hinterhältiger Hund. Schieß! Wenn ihr mich liquidieren wollt, dann tut es doch. Ihr bekommt mich ja doch, früher oder später. Es hat keinen Sinn, vor euch davonzulaufen. Worauf wartet ihr? Ich war immer ein guter, patriotischer Russe. Warum zweifelt ihr an mir?
Aber der zweite Schuß blieb aus. Dafür klingelte es an der Wohnungstür.
Frantzenow trug die Schaufel mit den Glasscherben in die Küche, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und öffnete die Tür. Captain Curlis stand davor, mit einem jungenhaften Lächeln und einer Flasche Kentucky-Whiskey in der Hand. Er streckte sie vor, als überreiche er Blumen.
Frantzenow ließ ihn eintreten und führte ihn ins Wohnzimmer. Im Radio spielten sie den ersten Satz aus der Pastorale von Beethoven. »Ich stelle leiser«, sagte Frantzenow, und dann: »Haben Sie vor dem Haus jemanden gesehen?«
»Nein! Nicht mal einen Hund.«
»Hier gibt es keine Hunde.«
»Eine Geisterstadt.«
»Ein Fremder kann sie so nennen. Für uns ist sie – war sie – eine Stadt des Geistes.«
»Trotzdem, es ist eine Geisterstadt. Ich sage das bewußt.« Curlis setzte sich in den Sessel, in dem Frantzenow gerade sein Leben durch eine kleine Bewegung gerettet hatte, und wartete, bis sein Gastgeber den grusinischen Rotwein entkorkt und zwei Gläser eingeschenkt hatte. Sie prosteten sich zu, ohne Trinkspruch, wie es sonst bei Russen üblich ist, denn der improvisierte Trinkspruch zeigt jedesmal, in welcher inneren Verfassung der Prostende sich befindet. Es ist deshalb wichtig, bei russischen Trinksprüchen genau hinzuhören.
»Warum wollten Sie mich sprechen, Mr. Curlis?« begann Frantzenow das Gespräch.
»Ich wollte Ihnen gratulieren.«
»Wozu?«
»Nicht zu Ihren Erfolgen, da haben Sie Ehrungen genug erfahren. Ich freue mich einfach, daß Sie leben.«
Frantzenow kniff die Augen zusammen und starrte Curlis an. Hatte er draußen das Attentat miterlebt? War
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