Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
herumzuwirbeln und die Flucht zu ergreifen. Aber statt zum Friedhofstor zu rennen, wo die Polizei schußbereit wartete, lief Slatin weiter in den Friedhof hinein. Samson folgte ihm mit gesenkten Hörnern.
    »Er ist verrückt geworden!« brüllte Kiwrin. »Warum rennt er nicht zu uns?!«
    »Schießen!« stammelte Micharin. »Schießen!«
    »Slatin ist im Schußfeld, und den Stier würden wir nur in den Rücken treffen und ihn noch wütender machen. Mein Gott, was macht er denn? Was macht er denn?«
    Slatin hörte hinter sich das Dröhnen der Hufe und das wilde Schnaufen seines Stierchens. Er hetzte kreuz und quer durch die Grabsteine, seine Lungen pfiffen, er war ja kein sportlicher Jüngling mehr. In seinen Beinen spürte er ein Zittern, aber er raffte alle Kraft zusammen, denn ihm war klar, daß er unter die Hufe kam und Samsons Hörner keine Rücksicht darauf nehmen würden, ob er ihn großgezogen hatte.
    Im Zickzack ging die Hetze um die Grabsteine herum, zwischen den Grabsteinen hindurch, und Samson, der Kluge, kürzte die Wege ab, indem er einfach mit seiner Masse die Steine umrannte. Das tat weh und reizte ihn zur blindwütigen Mordlust.
    Slatin schien keine Chance mehr zu haben, seinem Stierchen zu entkommen. Soviel Haken er auch schlug, Samson walzte einfach über die Gräber hinweg und kam ihm deshalb immer näher. Der Kommandant der Miliz, neben Kiwrin stehend, schnaufte fast so laut wie der Bulle.
    »Neunzehn Gräber zerstört … das zwanzigste … dreiundzwanzig …«, stöhnte er verzweifelt. »Wir werden den ganzen Friedhof neu aufbauen müssen! Hat man so etwas schon gesehen? Davon wird man in hundert Jahren noch sprechen! Und lachen wird man, lachen über Atbasar. Jetzt hat er Slatin gleich. Nur noch zwei Meter … Halt! Halt!« Der Kommandant raufte sich die Haare und hüpfte auf der Stelle. »Jetzt ist er am Grab meines Großvaters! Zurück, du Teufel, zurück! Laß meinen Großvater in Frieden ruhen!«
    Aber wie konnte Samson etwas hören, wenn er vor Wut blind und gehörlos war? Mit Schwung riß er den Grabstein um und geriet damit einen Meter näher an Slatin, dem die Augen aus den Höhlen quollen.
    »Das ist zuviel!« schrie der Milizkommandant. »Das muß ein Ende haben.«
    Er riß Kiwrin das Gewehr aus der Hand, legte an, zielte kurz und drückte ab. Ein Meisterschuß. Samson blieb einen Augenblick wie gelähmt stehen, seine kurzen Säulenbeine bohrten sich durch die Fliehkraft in die weiche Erde. Er zitterte, warf einen traurigen Blick dem weiterrennenden Slatin nach, und dann sackte er ganz langsam in die Knie, schnaufte noch einmal mit letzter Kraft und fiel dann auf die Seite.
    Die Polizisten am Friedhofstor klatschten ihrem Chef Beifall. Kiwrin preßte die Zähne aufeinander und schwieg. Direktor Micharin murmelte: »Ich ess' ihn selbst. Er ist unverkäuflich. Er ist eine Notschlachtung.« Slatin sprang hinter einen Baum und bekam gar nicht mit, daß sein Verfolger nicht mehr hinter ihm war. Er hoffte nur, daß der Baum stärker war als ein Grabstein und den Hörnern standhalten würde.
    Als nichts erfolgte, kein Aufprall, kein Gebrüll, kein Zittern des Stammes, wagte es Slatin, hinter dem Baum hervorzublicken. Er starrte ins Leere … kein Stierchen mehr. Und dann entdeckte er seinen Samson hinter dem zertrümmerten Grab vom Großvater des Milizkommandanten, auf der Seite liegend, bewegungslos, und die Sonne ließ das braunweiß gefleckte Fell schimmern, als sei es aus Seide.
    In Slatins Gesicht zuckte es. Er ging langsam auf Samson zu, kniete neben ihm nieder, beugte sich vor und legte sein Gesicht auf die noch heißen, verschäumten Nüstern. Als Kiwrin und der Kommandant herankamen, sahen sie, daß Slatin weinte, und wer auch alles zusah – nur Kiwrin verstand ihn, und er wußte nicht zu erklären, warum.
    Er zog Slatin hoch und führte den Schluchzenden zu seinem Wagen. Und genau in diesem Augenblick traf Weberowsky ein, hielt an und schwang sich von seinem ratternden Traktor.
    »Zu spät!« sagte Kiwrin traurig. »Du kommst zehn Minuten zu spät. Du hättest Slatin und Samson retten können. Du hättest das geschafft.«
    »Was ist denn los?« fragte Weberowsky. Er blickte auf die Polizeiautos und die bewaffneten Polizisten, er erkannte auch Micharin und fragte sich, was ein Schlachthofdirektor mit der Polizei auf einem Friedhof zu suchen hat. »Terroristen?«
    »Samson war wild geworden«, erklärte Kiwrin.
    »Wer ist Samson?«
    »Mein Stierchen.« Slatin weinte wieder.

Weitere Kostenlose Bücher