Westwind aus Kasachstan
nach Deutschland hinein?«
Hermann wechselte das Thema, es hatte keinen Sinn, mit dem Alten zu streiten. »Willst du dir den Videorecorder leihen mit dem deutschen Sprachkurs?«
»Ja. Es genügt nicht, daß wir Volkstänze aufführen und der Pfarrer in der Kirche deutsch predigt. Sie lassen uns nur ausreisen, wenn wir ein vernünftiges Deutsch sprechen. Ich kann sogar noch unsere hessische Mundart.«
»Dafür kann ich sprechen wie ein Kasache.«
»Das will keiner wissen.«
»Für mich ist es das Fundament meines Lebens, Vater. Ich bin ein russischer Ingenieur und heirate ein russisches Mädchen.« Hermann stand auch vom Tisch auf. »Vater, nimm einmal einen Rat an: Gib diesen Fragebogen nicht ab. Mit den Antworten kommst du nie nach Deutschland.«
Am nächsten Tag fuhr Weberowsky nach Atbasar, um noch einmal mit Kiwrin zu sprechen. Aber Michail Sergejewitsch war nicht zu sprechen. Er war mit größtem Eifer dabei, das Leben seiner Bürger zu schützen. Schon beim Eintritt in die Stadt hatte Weberowsky eine gewisse Aufregung bemerkt, eine ungewohnte Hektik und eine seltsame Leere auf den Straßen.
Das hatte seinen Grund in einem sehr seltenen Vorfall, auf den man in Atbasar nicht vorbereitet war.
Der Bauer Slatin Wassiljewitsch Markarewitsch hatte einen jungen Bullen zum Schlachthof gebracht. So ein Bulle bringt gutes Geld, sein Fleisch ist kräftig und fettlos, bestes Muskelfleisch und von einer nicht alltäglichen Qualität. Slatin war deshalb stolz, kassierte einen guten Rubelbetrag und trank mit dem Leiter des Schlachthauses, Wladimir Petrowitsch Micharin, zweihundert Gramm Wodka, was beide sehr beschwingte.
Weniger begeistert allerdings zeigte sich der junge Bulle. Wer weiß schon, was in einem Tier vorgeht, wenn es den Blutgeruch schnuppert und enthäutete und aufgeschlitzte Artgenossen an blitzenden Haken an sich vorbeiziehen sieht. Es begann damit, daß der Bulle einen bösen Blick bekam, die Augen rollte, durch die geblähten Nüstern schnaubte, den dicken Kopf senkte und sein linkes Horn dem Metzger Lew Igorowitsch Tomski in den Hintern rammte. Tomski vollführte einen rekordverdächtigen Hochsprung, hechtete dann aus der Reichweite des aufbrüllenden Tieres und schrie gellend durch die gekachelten Räume: »Hilfe! Hilfe! Er hat mich erwischt. Einen Arzt! Sofort einen Arzt! Ich verblute …«
Für den Stier war das ein Signal, das ungastliche Gebäude zu verlassen. Er senkte wieder den Kopf, kratzte mit den Vorderhufen über den glatten Boden und stürmte dann los. Die anderen Metzger, die herbeigeeilt waren, um dem jammernden Tomski zu helfen, warfen sich zur Seite und ließen den Bullen passieren. Einer jagte ihm ein großes Messer nach, das, dem Himmel sei Dank, nicht traf, denn es hätte das Tier noch mehr gereizt.
Slatin und Wladimir saßen am Fenster des Büros und tranken ihren Wodka, als draußen der Bulle vorbeigaloppierte. Slatin setzte erstaunt sein Glas ab und schüttelte den Kopf, als müsse er eine Vision verjagen.
»Das … das war doch Samson?« sagte er verblüfft.
»Wer ist Samson?« fragte Wladimir dumm.
»Mein Stierchen! Am Fenster vorbeigelaufen ist er, statt am Haken zu hängen.«
»Slatin, seit wann verträgst du keinen Wodka mehr?« fragte Wladimir gemütlich. »Lumpige 200 Gramm, und schon siehst du Stiere vorbeifliegen …«
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Er hörte kurz zu, was eine aufgeregte Stimme ihm sagte, und warf dann den Hörer zurück auf die Gabel. »Er ist wirklich unterwegs!« rief er und sprang auf. »Er hat Tomski mit dem Horn aufgespießt! Hinterher! Wenn er auf die Straße kommt, eine Panik gibt das! Kannst du deinen Bullen wieder einfangen?«
»Wenn man ihn wütend gemacht hat, ist er wie ein spanischer Stier in der Arena.«
»Er darf nicht weit kommen! Slatin, was kann er alles anrichten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Slatin hilflos. »Ich habe keine Erfahrung mit wilden Stieren! Warum hat man ihn nicht richtig angebunden?«
»Fragen! Haben wir noch Zeit zu Fragen? Es muß etwas geschehen.«
Er riß das Telefon wieder an sich und rief Kiwrin an. Dort war von einem Milizionär, der an einer Straßenkreuzungstand und den Verkehr überwachte, Alarm gegeben worden. Samson hatte, seinem Namen entsprechend, ein Auto umgerannt, ein Obstgeschäft angegriffen und alle Kisten zerstört, während der Inhaber des Ladens flach hinter der Theke lag und betete. Und nun war er unterwegs in die Innenstadt. Das Chaos war
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