Westwind aus Kasachstan
eintraf und ihn mitnahm in sein Büro.
»Was treibt dich in die ferne Stadt?« fragte er.
»Ich habe Privates zu erledigen, Ewald.« Weberowsky holte den Fragebogen aus der Tasche und legte ihn Bergerow auf den Schreibtisch. »Lies einmal durch, was ich ausgefüllt habe. Einige Fragen habe ich ausgelassen, sie sind einfach nicht zu beantworten.«
»Das ist nicht gut.« Bergerow drückte sich vorsichtig aus. »Jede nicht oder unvollständig beantwortete Frage verzögert die Bearbeitung.« Er zog den Fragebogen näher heran und blätterte darin herum. Ein paarmal warf er einen fast entsetzten Blick auf Weberowsky und schob die Papiere dann von sich. »Bist du verrückt, Wolfgang?« fragte er, sichtbar erregt.
»Warum?«
»Diesen Fragebogen willst du einreichen?«
»Ja.«
»Du lieber Himmel! Er strotzt von Ironie und Gemeinheiten.«
»Ich habe nur die Wahrheit geschrieben.«
»Und was soll da die Antwort auf: ›Wurden Sie verfolgt?‹ – ›Ja. Im Jahre 1950 wurde ich von einer Frau verfolgt, die mich unbedingt heiraten wollte, obwohl ich bereits verheiratet war. Sie war eine Kasachin und bedrängte mich mit den Worten: ‚Zwei Frauen sind besser als eine.‘ Sie verfolgte mich ein Jahr lang und drohte mir dann, mein Haus anzustecken.‹ – So etwas zu schreiben, ist doch blanker Hohn!«
»Es ist die Wahrheit, Ewald.«
»Unter ›verfolgt‹ versteht das Ministerium etwas anderes.«
»Ich weiß, aber ich hatte Lust, meinen eigenen Begriff von Verfolgung zu erklären.«
»Wolfgang, du sturer Hund. Ich gebe dir einen neuen Fragebogen und den füllst du vernünftig aus.«
»Gibt es viele Anträge auf Aussiedlung?«
»Wir rechnen mit nahezu einer Million. Es können aber noch mehr werden. Viele überlegen noch, aber es gibt schon ganze Dörfer, die sich geschlossen gemeldet haben.«
»Das ist auch mein großes Ziel für Nowo Grodnow. So wie wir fünfzig Jahre lang eine große Familie waren, so sollten wir auch gemeinsam nach Deutschland auswandern.«
»Ohne dich. Mit den Antworten läßt dich keiner in die alte Heimat rein.«
Bergerow gab ihm einen neuen Fragebogen, und Weberowsky steckte ihn zusammen mit dem alten in seine Tasche. »Ich möchte ihn persönlich abgeben«, sagte er dabei. »Wo ist es am besten?«
»Die schnellste Weiterleitung ist von der Botschaft in Moskau aus. Von der deutschen Botschaft in Alma-Ata dauert es etwas länger. Aber sie ist für dich näher. Und billiger.«
»Ich habe genug Rubel gespart, um nach Moskau zu fliegen und dort ein paar Tage zu bleiben.«
»Wissen die Leute von Nowo Grodnow davon?«
»Ich werde nächste Woche eine Versammlung abhalten und es ihnen erklären. Noch weiß ich nicht, wie viele ausreisen wollen. Die einen sagen ja, die anderen zögern, aber keiner hat bisher gesagt: Ich bleibe in Kasachstan. Ich glaube, sie wollen alle nach Deutschland. Einige haben Briefe von Verwandten und Bekannten bekommen, die schon vor einem Jahr ausreisen durften. Alle schreiben: Das Leben hier ist nicht leicht, aber es lohnt sich. Man muß sich eingewöhnen, und das geht langsam. Aber wenn du ein Hemd kaufen willst oder Schuhe oder einen Rock oder sogar einen Anzug … du kannst aus Hunderten auswählen. Willst du ein Stück Fleisch? Die Metzgereien sind prallvoll. Hast du Lust auf ein Glas Wein? Tausend Flaschen lachen dich an! Und im Winter brauchst du nicht mehr die Fenster verkleben und gefrorenes Holz in das Haus tragen … du drehst an einem Schalter, und die Ölheizung hüllt dich in herrliche Wärme ein. Ja, es ist schön hier, wenn man sich eingelebt hat. Nur die Anfangszeit ist schwer. Aber wir haben soviel Schweres hinter uns, es hat uns nicht geschreckt. Das Leben hier und das Leben in Rußland eine ganze Welt liegt dazwischen.« Weberowsky holte tief Atem. »So schreiben sie, und wer das von uns liest, den kann keiner mehr abhalten, nach Deutschland überzusiedeln.«
»Das Wichtigste ist: Geduld«, sagte Bergerow.
»Die haben wir jahrzehntelang geübt.«
»Du weißt: Ein Antrag kann bis zur Genehmigung ein Jahr dauern. Wir haben schon eine Beschwerde beim Innenministerium in Bonn eingereicht. Was da praktiziert wird, ist eine bewußte Verzögerungstaktik der Bundesregierung, die künstlich aufgeblähte Einreiseschwierigkeiten als Bremse benutzt. Ich habe Angst, daß die Beamten in Bonn die Gesetze verschärfen und die Tore in die Heimat noch weiter verrammeln. Das solltest du wissen, und alle Ausreisewilligen sollten sich darauf einstellen. Eine Schande
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