Westwind aus Kasachstan
sein?«
»Ja. Andrej schreibt: Die nächste größere Stadt von uns aus ist Ust-Kamenogorsk. Oder gibt es noch eine andere Stadt mit diesem Namen?«
»Nein.« Bergerow streckte die Hand aus. »Gib mir mal den Brief, Wolfgang.«
Weberowsky reichte ihm das Schreiben hin. Zunächst las Bergerow den Absender. Professor Andrej V. Frantzenow. Kirenskija bei Ust-Kamenogorsk. Haus Nr. 11. Verblüfft ließ er das Kuvert sinken.
»Professor Frantzenow ist dein Schwager?« fragte er.
»Ja. Kennst du ihn?«
»Seinen Namen. Er soll einer der größten Atomwissenschaftler sein.« Bergerow riß plötzlich die Augen auf und starrte Weberowsky an. »Atom«, sagte er mit plötzlich belegter Stimme. »Das ist es! Da haben wir's.«
»Was haben wir?« fragte Weberowsky erstaunt.
»Darüber wurde schon immer geflüstert, seit Jahren, nur wußte niemand etwas Genaueres. Aber das Gerücht flog von Mund zu Mund und hörte nicht auf. Eine Stadt in der Wildnis, die keiner kennt. Eine Stadt, durch vier Sicherheitsringe völlig von der Welt abgeschnitten. Vor etwa vier Jahren kamen Nomaden aus dem Süden vom Saissan-See zurück und berichteten, daß vier von ihnen aus dem Hinterhalt erschossen wurden, weil sie einen Drahtzaun überklettern wollten. Daraufhin haben sie drei Tage und Nächte auf der Lauer gelegen, um ihre Toten zu rächen, denn einmal mußten sich die Schützen ja zeigen. Aber was sie aus der Ferne sahen, war eine Lastwagenkolonne mit Militär und einen Hubschrauber, der den Stacheldrahtzaun abflog. Dafür hatten sie keine Erklärung und zogen dann weiter auf dem alten Nomadenweg nach Norden. Natürlich war das neue Nahrung für das Gerücht von einer geheimen Stadt. Ein paar junge Leute voller Abenteuerlust machten sich vor etwa zwei Jahren mit einem Jeep auf den Weg, um diesen Südostzipfel Kasachstans zu untersuchen. Sie sind nie wieder aufgetaucht, waren einfach verschwunden, spurlos. Eine Kompanie der Garnison von Ust-Kamenogorsk sollte ausrücken, sie zu suchen. Da traf ein Befehl aus Alma-Ata ein, der den Einsatz verbot.« Bergerow holte tief Atem. »Verdammt, Wolfgang, sollte das wirklich dieses Kirenskija sein, wo heimlich Nuklearforschung betrieben wird?«
»Es muß so sein.« Weberowsky nahm den Brief wieder an sich. »Ich will meinen Schwager besuchen.«
»Willst du unbedingt erschossen werden oder für immer verschwinden?«
»Wenn Andrej schreiben kann und die Post kommt bei uns an, ist es keine geheime Stadt mehr.«
»Das ist verdammt logisch.« Bergerow kratzte sich den Kopf und dachte nach. »Aber wo liegt dieses Kirenskija?«
»Sicherlich da, wo man die Nomaden erschossen hat.«
»Das weiß man ganz genau. Aber da gibt es nur einen zwei Meter hohen Drahtzaun. Und dahinter, so vermutet man, eine Art Todeszone, die von Erdbunkern aus beobachtet wird. Wer sie betritt, hat seinen letzten Schritt getan. Es wird dir nicht anders ergehen. Ein Brief beweist gar nichts. Er kann auch hinausgeschmuggelt worden sein.«
»Ich werde fragen«, erwiderte Weberowsky stur.
»Wen?«
»Den Kommandeur der Garnison Ust-Kamenogorsk.«
»Du bist total verrückt. Sie werden dich sofort verhaften.«
»Nicht mehr, Ewald. Die Sowjetunion ist tot. Das neue Rußland ist kein totalitärer Staat mehr. Der KGB hat seine ungeheure Macht verloren.«
»Wenn das bloß nicht ein Märchen ist, Wolfgang. In Moskau ist gegenwärtig Stille, aber die Reformer um Jelzin werden noch viel von der alten Kommunistengarde hören und spüren. Und an ihrer Spitze stehen die Generäle des KGB. So einfach geben die nicht ihre siebzigjährige Macht her. Aber bitte, versuch es. Ich kann dich doch nicht davon abhalten.«
»Nein. Das kannst du nicht.«
Eine Stunde später stand Weberowsky dem General Leonid Lewonowitsch Tistschurin gegenüber. Es war schneller gegangen, als er erwartet hatte. Schon bei der Erwähnung des Namens Kirenskija beim Wachoffizier wurde er sofort an einen Major weitergereicht, der ebenso schnell den Kommandierenden anrief. Zwei Unteroffiziere brachten ihn bis vor die Zimmertür des Generals. Weberowsky hatte das Gefühl, verhaftet und abgeführt zu werden.
Tistschurin war ein großer, stämmiger Mann mit einem dicken, buschigen Schnurrbart, wie ihn im Großen Vaterländischen Krieg der legendäre Reitermarschall Budjonny getragen hatte. Semjon Michailowitsch war auch das große Vorbild Tistschurins. Auf einem edlen kasachischen Vollblutpferd ritt er oft hinaus in die Steppe und beneidete Budjonny , daß dieser einen Krieg
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