Westwind aus Kasachstan
miterleben durfte und ein Kriegsheld geworden war, der in allen Geschichtsbüchern und Lexika zu finden war. Tistschurin war deshalb auch ein heimlicher Gegner von Gorbatschow und Jelzin, deren Friedenspolitik er für eine Schande Rußlands hielt. Nur ein starkes, hartes Rußland konnte in dieser Welt bestehen, war seine Ansicht, ein Rußland als größte Atommacht der Erde. Furcht ist ein Friedensgarant, hatte er damals gesagt, als Gorbatschows Perestroika und Glasnost die ersten Erfolge zeigten. Furcht … und nicht Anbiederung an den Feind. Und ein Feind war für ihn alles, was nicht russisch war.
Nun standen sich der russische General und der deutschstämmige Bauer Weberowsky gegenüber. Keiner sprach ein Wort. Sie musterten sich wie zwei Ringer, ehe sie aufeinander zustürzten. Zwei Stiere, die ihre Hörner bereits gesenkt hatten.
»Sie wollen nach Kirenskija?« fragte Tistschurin als erstes.
»Ja!« sagte Weberowsky laut. Blicke konnten ihn nicht einschüchtern.
»Woher wissen Sie, daß es Kirenskija gibt?«
»Ich habe einen Brief aus der Stadt bekommen.«
»Unmöglich! Für welchen Staat arbeiten Sie als Agent?«
»Ich ein Agent?« Weberowsky tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Wäre ich dann so dämlich, mich ausgerechnet an Sie zu wenden? Als Agent wüßte ich, wo die Stadt liegt, da würde ich nicht fragen.«
»Was wollen Sie dort?«
»Meinen Schwager besuchen. Den berühmten Professor Frantzenow. Er hat mir geschrieben.«
»Frantzenow? Frantzenow? Den Namen habe ich schon mal gehört. Vor langer Zeit.«
»Im sowjetischen Fernsehen wurde sein Begräbnis gesendet, vor neun Jahren.«
»Sie wollen jetzt sein Grab besuchen?«
»Nein. Sein Grab liegt in Moskau. Man hat ihn in Moskau an einem Herzinfarkt sterben lassen.«
»Zum Teufel, was wollen Sie dann in Kirenskija?«
»Wie der Brief beweist, lebt er noch.« Weberowsky reichte Tistschurin den Brief. »Breschnew hat meinen Schwager in die höchste Geheimstufe versetzt, und die ist der offizielle Tod. Jelzin hat ihn wiederauferstehen lassen …«
»Diese verdammte, aufgeweichte Politik!« Tistschurin las den Brief nicht, nur den Absender. Er gab ihn zurück, ging zu seinem Schreibtisch und wählte eine Nummer, die ihn mit dem Kommandanten der Truppen in Kirenskija verband.
»Hier Tistschurin«, sagte er freundlich. »Ist dort Valerie Wassiljewitsch am Apparat?«
»Ist er, Leonid Lewonowitsch.« General Wechajew in Kirenskija wunderte sich. Man hörte es seiner Stimme an. Wie selten rief Tistschurin an; eine persönliche Beziehung gab es kaum zwischen ihnen. Im Gegensatz zu Leonid Lewonowitsch war Wechajew ein Anhänger Jelzins und seiner Reformen. Daß diese Reformen, vor allem aber die Abrüstung, auch sein Leben verändern konnten, regte ihn nicht auf. Wenn es sein muß, hatte er zu seiner Frau Neonila gesagt, lasse ich mich gern in Pension schicken. Dann werde ich den Garten in unserer Datscha bearbeiten, wir werden viel reisen, im See baden oder im Kaspischen Meer oder sogar in Sotschi am Schwarzen Meer, und ich werde steinalt werden auf Kosten des Staates. Was will man mehr vom Leben, mein Täubchen?
»Wo drückt der Schuh?« fragte er jetzt.
»Meine Schuhe passen immer!« antwortete Tistschurin steif. Die Späßchen seines Generalskameraden waren ihm zuwider. Mit Wechajew war – auch bei Konferenzen der Generalität – ein ernstes Wort kaum zu reden. Auf alles hatte er einen Witz oder einen Sinnspruch bereit, dem man kaum etwas entgegnen konnte, was Tistschurin am meisten ärgerte, denn er wollte nie, in keiner Lage und Gelegenheit, der Unterlegene sein. Aber gegen Wechajews Sprüche kam er nicht an. »Ich habe nur eine Frage.«
»Ich höre. Fragen mag ich.«
»Gibt es in Kirenskija einen Professor Frantzenow?« fragte er.
Wechajew wartete mit der Antwort und fragte zurück:
»Wie kommen Sie auf diesen Namen, Leonid Lewonowitsch?«
»Es gibt ihn also?«
»Ja«, antwortete Wechajew zögernd. »Was wollen Sie von ihm?«
»Ich will gar nichts von ihm! Vor mir steht ein Mann, Wolfgang Antonowitsch Weberowsky, der Frantzenow besuchen will.«
»Verhaften!« Wechajew war plötzlich nüchtern und gar nicht mehr fröhlich. »Verhaften und weitergeben nach Semipalatinsk. Ich werde ihn sofort beim KGB anmelden.«
»Weberowsky ist der Schwager von Professor Frantzenow. Er hat einen Brief von ihm bekommen.«
»Eine Sauerei!«
»Das kann ich nicht beurteilen.« Tistschurin freute sich, daß es ihm gelungen war, Wechajew in
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