Wetterleuchten
ganze Sache am liebsten vergessen.«
»Warum? Was ist denn daran so schlimm, sich ihr zu nähern? Es ist doch bloß eine Robbe und kein Hai.«
Aber genau das beunruhigte Jenn. Denn neben ein paar anderen Dingen fing sie langsam an zu begreifen, dass der Ausdruck »bloß eine Robbe« auf Nera nicht zutraf.
Ins Schweigen hinein sagte Squat: »Wir könnten uns natürlich auch die Fotos von ihr angucken.«
»Die ganze Stadt ist voller Fotos von ihr«, stöhnte Jenn. »Und hast du je eins gesehen, auf dem der Sender deutlich zu erkennen war? Ich jedenfalls nicht.«
»Und jetzt?«, fragte er. Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Warum interessiert dich diese blöde Robbe eigentlich so sehr?«
Weil sich Annie für sie interessiert, lautete die Antwort. Doch das wollte Jenn nicht sagen, denn das hätte ein weiteres »Warum?« nach sich gezogen; und darauf hätte sie beim besten Willen keine Antwort gehabt.
Jenn wollte unbedingt eine andere Möglichkeit finden, um einen Blick auf Neras Sender zu erhaschen, als noch einmal tauchen gehen zu müssen. Doch die einzige andere Möglichkeit wäre gewesen, durch eine wundersame Fügung auf eine Nahaufnahme zu stoßen. Mit Squats Hilfe suchte sie noch ein wenig im Internet, aber ohne Erfolg. Sie musste also wohl oder übel noch einmal unter Wasser. Aber dazu würde sie sich erst einmal wieder mit Annie vertragen müssen.
Nach ihrem missglückten Tauchversuch im Jachthafen hatte sie nicht einmal zugelassen, dass Annie sie nach Hause fuhr. Sie war so wütend über Annies Begeisterung gewesen, als Nera aufgetaucht war und sie erschreckt hatte, dass sie kein Wort mehr mit der Meeresbiologin hatte sprechen und schon gar nicht mit ihr im selben Auto hatte fahren wollen. Seitdem hatte Annie sie dreimal gegrüßt und gebeten, in den Wohnwagen zu kommen. Aber Jenn hatte so getan, als hätte sie sie nicht gehört, bis Annie schließlich aufgab, sagte: »Dann eben nicht«, und sie in Ruhe ließ.
Jetzt sagte sie sich, dass - selbst wenn sie einen weiteren Tauchgang wagen würde - es gar nicht sicher war, dass die Robbe wieder so nahe herankommen würde. Aber wenn sie gar nicht mehr tauchen ging, würde sie die Robbe auf keinen Fall mehr sehen.
Als sie ein paar Tage später von der Schule nach Hause kam, bot sich ihr die Möglichkeit, sich mit Annie zu versöhnen. Sie wollte gerade die Stufen zur Veranda hoch, als sie ihren Vater und die Meeresbiologin an den Köderbecken sah. Sie standen innerhalb der Umzäunung und ihr Vater hockte neben dem Wasser, zeigte darauf und sprach über die Schulter mit Annie. Diese reagierte darauf, indem sie den Kopf schüttelte und ernst dreinschaute. Bruce McDaniels gestikulierte und wirkte ziemlich verärgert. Es sah so aus, als würde er jemanden für seinen Ärger verantwortlich machen. Jenn ging zu ihnen.
Sie hörte, wie Annie sagte: »Vielleicht war es ein Waschbär.«
»Waschbären können keine Maschendrahtzäune hochklettern«, erwiderte Bruce McDaniels. »Und sie können sich auch nicht darunter hindurch graben, denn der Boden besteht aus Beton.«
»Dann vielleicht eine Katze.«
»Mit einer Angelrute, oder wie?«, erwiderte Bruce spöttisch. »Ich hätte ja gesagt, es war ein Reiher, aber der Zaun wäre für ihn zu riskant gewesen. Also bleibt nur noch menschliches Einwirken.«
Jenn ging durch die Zaunöffnung. Das Wasserbecken enthielt kristallklares Wasser, doch die Heringe darin wühlten es auf wie eine Flüssigkeit, die kurz vor dem Siedepunkt steht. Sie fragte: »Hey. Was ist los?«
Ihr Vater begrüßte sie lächelnd, doch sein Lächeln kam nicht bei seinen Augen an. Er sagte: »Uns fehlen Köder. Jemand hat welche gestohlen, und zwar eine ganze Menge. Das gefällt mir gar nicht.«
Jenn sah Annie nicht an und schlug vor: »Zum Angeln, meinst du?«
»Was weiß ich. Vielleicht. Sie haben so viele mitgenommen, als wollten sie selbst ins Ködergeschäft einsteigen.«
Jenn sah wieder aufs Wasser. Sie hatte keine Ahnung, woran ihr Vater erkennen konnte, dass Fische fehlten, denn sie sah nur silbrige Blitze umherschnellen. Aber schließlich war es sein Geschäft. Und wenn er sagte, dass Fische fehlten, dann fehlten auch welche, und sie konnten es sich nicht leisten, Köder zu verlieren. Sie wollte nicht glauben, dass Annie Taylor etwas damit zu tun hatte. Doch ehrlich gesagt, war Annie Taylor der einzige Mensch, der momentan eimerweise Köder gebrauchen konnte.
»Meinen Sie wirklich, jemand würde sich die Mühe machen«, sagte
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