Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wetterleuchten

Wetterleuchten

Titel: Wetterleuchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
erreichen.
    Ich habe keine Angst vor Stränden, nur vor dem Wasser, das sie säumt. Die Strände mit ihren salzigen Gerüchen und den dicken, gewundenen Meeresalgenschlangen, die immer wieder aufs Neue angespült werden, liebe ich. Hier liegt Treibholz herum, das vom Wasser glatt geschliffen wurde. Es gibt große Felsen, auf die man klettern kann. Ein Adler fliegt hoch oben in der Luft, und eine Möwe krächzt, und ein toter Seebarsch liegt in der kalten, grellen Sonne.
    Ich bleibe vor dem Fisch stehen und beuge mich vor, um ihn genauer zu betrachten. Ich beuge mich noch weiter vor, um an ihm zu riechen. Davon brennen mir die Augen.
    Die Möwe krächzt noch einmal, und der Adler kreischt. Er stößt herab und erhebt sich wieder in die Lüfte, und ich folge seinem Flug mit den Augen. Er fliegt gen Norden und verschwindet in der Ferne.
    Ich warte darauf, dass er zurückkommt, aber das tut er nicht. Und auch der Daddy ist weg, stelle ich fest, der mich durch das Dickicht an diesen Strand geführt hat. Er ist an der Stelle stehen geblieben, wo der Sand auf den Weg trifft, auf dem wir gekommen sind. Er hat gesagt: »Ich rauch mir kurz ’nen Giftstängel. Erzähl’s bloß nicht der Mommy, ja, Cill?«, aber ich bin weitergegangen. Vielleicht ist er zurück zu dem versprochenen Picknick, und jetzt bin ich allein. Die Einsamkeit und die Nähe zum Wasser mag ich nicht. Ich laufe zurück zu dem Platz, wo das Auto parkt.
    Aber das ist auch weg, genau wie der Daddy. Und die Mommy. Da, wo das Picknick sein sollte, stehen nur zwei Dinge auf dem grauen und mit Flechten überzogenen Tisch unter den Bäumen. Ein in Folie verpacktes Sandwich. Und ein kleiner Rollkoffer.
    Ich komme näher. Ich blicke mich um. Wie immer sehe, beobachte, deute ich. Aber hier ist niemand, der darauf reagieren könnte.
    Ich bin allein. Und ich habe keine Ahnung, wo ich bin.

Kapitel 1
    W enn Leute behaupteten: »Geld ist nicht alles«, wusste Jenn McDaniels sofort zwei Dinge über sie. Erstens, sie waren nie arm gewesen. Und zweitens, sie hatten keine Ahnung, wie es war, arm zu sein. Jenn war arm, sie war die ganzen fünfzehn Jahre ihres Lebens arm gewesen, und sie wusste nur zu gut, was man alles tun musste, wenn man kein Geld hatte. Man kaufte seine Klamotten in Secondhandläden, man kratzte sich seine kläglichen Mahlzeiten bei der städtischen Essensausgabe zusammen, und wenn sich einem auch nur die geringste Chance bot, einem Leben aus zweiter Hand mit Bettlaken als Vorhängen zu entrinnen, ergriff man sie, ganz gleich, was man dafür tun musste.
    Genau damit war Jenn an dem Nachmittag beschäftigt, als Annie Taylor in ihr Leben brauste. Wenn ihr der Zustand des sehr schnittigen silbernen Honda Accord nicht verraten hätte, dass Annie Taylor nicht auf Whidbey Island gehörte - oh Mann, das Auto war tatsächlich sauber! -, hätte sie es an dem Kennzeichen aus Florida erkannt. Oder an Annie Taylors trendigem Outfit und ihrem supermodisch frisierten, gewollt struppigen roten Haar. Sie stieg aus dem Wagen, stemmte eine Hand in die Hüfte und fragte Jenn: »Das ist doch Possession Point, oder?«, während sie mit einem missbilligenden Blick den Hindernisparcours betrachtete, den Jenn entlang des Wegs aufgestellt hatte.
    Dieser Hindernisparcours war Jenns Chance, den Bettlakenvorhängen und dem Leben aus zweiter Hand zu entrinnen. Es war auch ihre Chance, Whidbey Island ganz hinter sich zu lassen. Der Parcours bestand aus Mülltonnendeckeln, kaputten Klobrillen, Ködereimern, Schwimmern und zerrissenen Rettungswesten. Diese Gegenstände ersetzten die Leitkegel, die andere - reiche - Kids zum Trainieren benutzt hätten. Jenn hatte vorgehabt, diesen behelfsmäßigen Hindernisparcours mindestens eine Stunde lang auf und ab zu dribbeln. In ein paar Monaten fanden Testspiele für die All-Island-Mädchenfußballmannschaft statt, und Jenn wollte unbedingt den Sprung ins Team schaffen. Mittelfeldspielerin! Eine blitzschnelle Braut! Ihre Geschicklichkeit unumstritten! Ihre Zukunft gesichert! Universitätsstipendium, ich komme ... Nur stand ihr jetzt Annie Taylors Wagen im Weg. Oder Jenn stand Annie Taylor im Weg - je nachdem, von welcher Warte man es betrachtete.
    Jenn bestätigte, dass dies Possession Point sei, machte aber keine Anstalten, ihre Sachen aus dem Weg zu räumen, damit Annie weiterfahren konnte. Offen gesagt, sah sie keinen Grund dazu. Der Rotschopf gehörte eindeutig nicht hierher, und wenn sie die Aussicht genießen wollte - die alles andere als

Weitere Kostenlose Bücher