Wetterleuchten
darauf zu, nicht, weil ich es will, sondern weil ich muss.
Schließlich breitet sich vor mir ein Gewässer aus, das den salzigen Geruch der See verströmt. Weit weg auf der anderen Seite sprenkeln Lichter ein entferntes Ufer, wie tausend Sterne, die jemand in den Himmel geworfen hat. Das Ufer ist zu lang, um zu einer Insel zu gehören, die vergleichbar wäre mit der, auf der ich gewandert bin, und eine hell erleuchtete Fähre legt davon ab.
In meiner Nähe gibt es noch mehr Lichter. Sie kommen von einem Wohnwagen, an dem der Rost hinaufklettert wie absterbende Kletterpflanzen. Sie kommen auch von einem alten grauen Haus mit einer baufälligen Veranda. Rauch steigt aus dem Schornstein beider Gebäude. Sein Geruch., überdeckt beinahe völlig den Salzgeruch des Wassers.
Ich gehe an den Rand des Wassers. Meine Füße sinken in den Sand, und ich gehe noch näher heran, bis das Wasser fast meine Zehen erreicht. Da springe ich zurück. Ich schaue hin. Ich beobachte. Aber es gibt nichts zu sehen. Bis ...
Eine Flosse durchbricht die Wasseroberfläche. Dann noch eine. Und dann eine dritte. Alle drei sind riesig, wie das schwarze Segel eines Bootes, und ich weiß, dass sie Gefahr für mich bedeuten. Ich weiß nicht, woher die Worte kommen. Es sind Schwertwale, Orcas, Killerwale. Und ich weiß, dass ich in ihrer Gegenwart nicht sicher bin.
Ich entferne mich langsam vom Ufer. Ich will mich verstecken, doch anstatt eines Verstecks sehe ich das Diamantmuster eines Maschendrahtzauns und darin einen glitzernden Wassertümpel.
Die Oberfläche des Wassers innerhalb des Zauns ist unruhig und wird durch die Bewegung vom Fischen aufgewühlt. Sie glitzern silbern in der Nacht, und ich würde sie am liebsten berühren und spüre schon ihre glitschigen Körper- zwischen meinen Fingern. Aber dazu müsste ich meine Hand ins Wasser tauchen, und das ist unmöglich.
Ich sehe mich um. Nicht weit von mir hängt ein langer Stock am Zaun, der ein Netz oben an der Spitze hat. Ich nehme ihn und tauche ihn ins Wasser. Als ich ihn wieder aus dem Wasser hebe, wimmelt es im Netz von Fischen. Im Mondlicht glänzen sie hell und lebendig, und ihre Körper schlagen wild hin und her, als ob sie einen Weg suchten, aus dem Netz, das ich halte, zu entkommen.
Da weiß ich plötzlich, was sie wollen und was ich machen soll. Ich begreife, warum ich an diesen Ort geführt wurde.
Ich trage das Netz aus der Umzäunung heraus zum Wasserrand und werfe seinen Inhalt hoch in die Luft. Die Fische fliegen hinauf wie Münzen, die in einen Springbrunnen geworfen werden. Doch es sind lebende Münzen, und wenn sie aufs Wasser treffen, sinken sie nicht. Stattdessen schwimmen sie im Kreis. Einmal, zweimal, und dann sind sie frei.
Kapitel 30
N ach dem Unterricht trainierte Jenn auf der Schulrennstrecke ihre Sprints. Danach würde sie zwar nicht mehr so gut nach Hause kommen, weil sie den Inselbus anstatt des Schulbusses nehmen und dann von Bailey’s Corner den ganzen Weg nach Possession Point laufen musste, und das aller Wahrscheinlichkeit nach bei Wind und Regen. Aber auf der Bahn in der Schule zu sprinten, war tausendmal besser als auf dem unbefestigten Weg, der zum Grundstück ihrer Eltern führte, oder auf der Straße nach Possession Point. Außerdem tauchte jedes Mal, wenn sie auch nur an die Vorbereitung für die Fußball-Testspiele dachte, Annie Taylor aus heiterem Himmel auf und wollte ihre Hilfe bei irgendetwas.
Ein paar Tage nach ihrem Geschichtsreferat kam Squat auf die Bahn. Er setzte sich ganz unten auf die einzige Tribüne. Sie sah ihn zwar, unterbrach ihr Training aber nicht. Nachdem er an jenem Tag bei sich zu Hause ihre Brust angefasst hatte, hatten sie nicht viel miteinander geredet, und sie wusste, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Entweder konnten sie so tun, als wäre es nie geschehen, oder sie konnten darüber sprechen. Jenn hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie so taten, als wäre es nie passiert.
Also ignorierte sie ihn, bis ihr klar wurde, dass er wahrscheinlich bis ans Ende aller Tage da sitzen bleiben würde. Als es schließlich anfing zu regnen, hatte sie keine Wahl. Sie musste irgendwann mit dem Training aufhören. Sie stapfte zur Tribüne und ließ sich neben ihn auf den Sitz fallen.
»Wird auch langsam Zeit«, brummte er. Dabei zog er sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf.
»Bald fangen die Testspiele an«, lautete ihre Entschuldigung. »Und ich hätte schon viel früher anfangen müssen zu trainieren. Aber mir ist immer was
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