When the Music's Over
seine Hängematte, einen Joint und den Walkman mit der letzten CD der Runners. »Running Nowhere« – was für ein passender Titel für den Schwanengesang einer Band.
»I’m lost in time,
Like a child in the dark
Why should you care?
Searchin’ and dreaming
And running nowhere.«
Heute Nacht war er in einer seltsamen Stimmung, schwankend zwischen Sentimentalität und Selbstzerstörung. Was war da passender als eine Nacht unter südlichen Sternen und Blues Stimme, die von verlorener Liebe und Vergänglichkeit sang?
Am nächsten Morgen wachte er mit zitternden Händen auf und hinter seinen Augäpfeln kribbelten eine Million Ameisen. Der Sklak-Entzug. Er hatte von Süchtigen gehört, die sich im Entzug die Augen aus dem Kopf gerissen hatten. Und jeden Morgen prüfte er im Spiegel, ob die Droge seiner Iris bereits die Pigmente entzog. Bis jetzt hatten ihm immer Blues Augen entgegengeschaut. Er wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte, die unweigerlich sichtbar werdenden Begleiterscheinungen seiner Sucht oder auf ewig Teil seines Bruders zu sein.
Am Horizont verdeckte eine Nebelwand den Planktonschlepper. Pierce warf den Motor an. Die alten Siemens-Kollektoren hatten sich während der vergangenen Tage aufgeladen, er würde genug Energie haben, um den Schlepper weiträumig zu umschiffen. Er trommelte auf das Ruder, stolz darauf, immer noch zu dieser Umsicht imstande zu sein. Plötzlich erstarrte er. Er kannte den Beat, es waren die Eingangstakte zu »Running Wild«, dem letzten Hit, den er zusammen mit Blue geschrieben hatte. Ein verlorenes Lächeln umflackerte seine Mundwinkel. War es ein Wunder, dass er Sklak nahm, in dieser Welt voll Gespenster?
Die Nebelbank war tiefer, als er geschätzt hatte. Ein sonores Dröhnen umgab ihn von allen Seiten – die Verarbeitungsmaschinen des Planktonschleppers. Er wusste, wenn die Bugwelle des Kolosses sein SunCo erwischte, gab es kein Entkommen. »Alternder Rockstar zu Protein-Keksen verarbeitet« – was für ein geile Schlagzeile. Pierce lachte hysterisch. Er hatte schon immer gewusst, dass Promotion das Wichtigste für den Erfolg der Band war. Und dann war nur noch sein Gelächter zu hören. Der Nebel lag hinter ihm und auch die Gefahr. Gute Textzeile, dachte er automatisch. Früher waren ihm so immer die besten Einfälle gekommen. Einfach entspannen und auf das emsige Wispern seiner Gedanken lauschen – so hatte er es einmal Blue zu erklären versucht, der ihn daraufhin nur verständnislos angesehen hatte.
Er rauchte noch einen Joint, den vorletzten, um die Entzugserscheinungen so weit abzuschwächen, dass er noch einen Tauchgang machen konnte.
Unten, dort war seine Welt. Tauchen war seine Flucht, sein Zen und sein geheimer Ort. Seine Schatzinsel, 20 000 Meilen unter dem Meer.
Das Korallenriff war mit dem Giftmüll und den Nuklearabfällen eines ehemaligen Boom-Staates eine tödliche Verbindung eingegangen. Milliarden Kleinstlebewesen, über Jahrzehnte unbekannten chemischen Prozessen ausgesetzt, mutierten über mehrere Generationen, um schließlich in die Nahrungskette aufgenommen zu werden.
Pierce unterzog das abgestorbene Riff einer flüchtigen Untersuchung. Hier gab es nichts, was das Interesse der Vierfinger wecken konnte. Dennoch fühlte er sich seltsam von diesem Ort berührt. Es war die gleiche Faszination, die ihn vor den Balearen beim Anblick eines abgeschossenen Linienflugzeugs der »Air Marocco« ergriffen hatte. Die Maschine lag knapp dreihundert Meter unter Wasser, mit ihren sechshundert Passagieren – Flüchtlinge –, die immer noch auf ihren Sitzen angeschnallt waren. Er hatte längst vergessen, wovor sie geflohen waren – der ganze Planet schien sich seit einigen Jahren auf der Flucht zu befinden –, doch der Anblick der Leichen hatte Bilder von suggestiver Eindringlichkeit in sein Hirn gebrannt. Bilder, die so surreal waren, dass er sie manchmal seiner Einbildung zuschrieb.
Langsam ließ er sich tiefer sinken und um das tote Riff treiben. Es war eine Welt, die der Phantasie eines irren Malers entsprungen sein konnte. Oder eines irren Musikers auf einem LSD-Trip, wie Pierce sich mit einem Lächeln eingestand. Zuerst hatte Blue ihn auf all seinen Reisen in den Inneren Raum begleitet, war sein gelehriger Schüler gewesen – sein kleiner Bruder, der so viel mehr Talent besaß. Er konnte ihn nicht mal mehr hassen, so ausgebrannt fühlte er sich. Manchmal, wenn die Ansätze eines Songs durch seinen Kopf huschten, fragte er sich, wo er wohl
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