When the Music's Over
das war nichts Neues. Seit jenem Tag, an dem ihm klar wurde, dass er den letzten Auftritt der Runners verpasst hatte, war er nicht mehr nüchtern gewesen. Erst Alkohol, dann Koks und dann abwechselnd alles beides.
Da draußen war ein gigantisches Festival und er, er war nicht dabei. Doch das war überhaupt nicht von Bedeutung, nichts war mehr von Bedeutung. Er lebte in einem anderen Universum und die Schnittstelle zur Realität war hinter mehreren Dämmschichten verborgen. Er fühlte sich nicht richtig wohl in diesem Zustand, doch es war sehr bequem so, hielt es ihn doch davon ab, allzu viel nachzudenken oder sich komplizierte Entschuldigungen für sein Versagen zurechtzulegen.
Das Festival, das war es, dachte Blue plötzlich. Feuerwerk, wie dumm von ihm, natürlich, Feuerwerk und keine Schüsse. Aber es klang fast so, als wäre es hier im Haus – seltsam. Wieder rief er »Licht«, und diesmal schaltete das Serviceprogramm die Nachtbeleuchtung ein.
Fast rechnete er damit, dass Tonia aufwachen und sich über das Licht beschweren würde. Doch sie rührte sich noch immer nicht.
Wieder zerschlug ein schussartiger Knall, gefolgt von einem abfallenden Schrei, die Stille. Vielleicht waren auch Einbrecher im Haus, überlegte er träge, und vielleicht sollte jemand nachsehen, was da draußen vorging. Er setzte sich auf und sah auf die schlafende Frau. Mit zwei Fingern hob er eine schwarze Locke an und ließ sie wieder fallen. In den vergangenen Tagen hatte er die merkwürdigsten Wahnvorstellungen gehabt, eine handelte von Tonias Haaren: Sie hatten sich in lebende Schlangen verwandelt und krochen über ihn, drangen in seine Körperöffnungen und – dies war gewöhnlich der Augenblick, wenn er schreiend aufwachte. Er war sicher, dass es eine Phantasie nach ihrem Geschmack war.
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass sie nicht mehr atmete. Blue nahm es eher beiläufig zur Kenntnis. »Überdosis«, dachte er und: »aber das war ja zu erwarten«. Er fühlte sich eigenartig – nicht erleichtert, das kam erst später –, sondern eher losgelöst und unbeteiligt.
Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Er lief um das Bett herum und beugte sich über die Tote. Eine fast obszöne Neugierde ließ ihn in ihr Gesicht sehen. Sie hatte die Augen geöffnet, sah ihn mit diesem selbstgefälligen Ausdruck an, den sie extra für ihn reserviert zu haben schien.
Blue war kalt. Er sah an sich hinunter. Er war nackt, aber irgendwie auch wieder nicht. Er tastete verwundert seinen Körper ab. Eine klebrige Substanz blieb an seinen Fingern hängen. Blut. Überall war Blut! Ein Teil von ihm stellte sachlich fest: »Also doch keine Überdosis.« Aber dann gewann die Stimme in seinem Kopf, die schrie: »Du hast sie umgebracht!«, die Überhand.
Mit der Stimme kamen die Schuldgefühle und aus der Schuld resultierte das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um und sah sich ins Gesicht. Schlagartig durchbrach er die Schnittstelle und die Wirklichkeit sprang ihm entgegen – nein, nicht die Wirklichkeit, verbesserte er sich noch, ehe er aufschlug, es war der Fußboden.
Pierce dachte: So ist das wohl, wenn man am Ereignishorizont angelangt ist. Es gibt kein Zurück, die Kräfte ziehen einen unwiederbringlich hinein.
Blue so plötzlich gegenüberzustehen hatte ihm einen Schock versetzt.
Vor zwei Tagen noch war er mit der kleinen Grönländerin auf der »Zaca« unterwegs gewesen, hatte ihr den Zauberhut gezeigt und sich die Bestätigung geholt, dass er nicht halluziniert hatte, als er das erste Mal dort unten gewesen war.
»Wir müssen dem ein Ende bereiten«, hatte sie ernsthaft gesagt, als die Taucherglocke wieder sicher an Deck stand und sie ihm mit einer fast schon zeremoniellen Geste die Kamera zurückgab. »Es ist alles drauf.«
»Damit kommen wir sicher in die Abendnachrichten«, sagte Pierce trocken. »Und jetzt sieh zu, dass du unter Deck kommst, gleich wird es hier sehr ungemütlich.«
Wie zur Bestätigung schlug ein Blitz in die Satellitenschüssel auf dem Ruderhaus. Es stank nach Ozon und verschmorter Elektronik.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, brüllte er und stürzte zur Steuerkonsole.
Skadi war ihm gefolgt. »Was ist passiert?«, fragte sie zaghaft.
»Die Navigationsanlage hat’s erwischt. Der Autopilot ist auch hin«, zählte Pierce grimmig auf. »Zum Glück war die Solareinheit runtergefahren. Aber ich werde auf alle Fälle ein paar Selbsttests initiieren, wenn es wieder aufgeklart hat.«
»Und was
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