Whiskey für alle
Gästestube suchen zu können. Sie war lang hingeschlagen und hatte eine Platzwunde am Jochbein, die heftig blutete. Er wollte ihr aufhelfen, stürzte unglücklich über sie, schlug mit der Stirn auf den Fußboden und verlor das Bewusstsein. Als er zu sich kam, strömte das helle Morgenlicht durch das Fenster. Die Uhr auf dem Kaminsims bestätigte seine Befürchtungen. Das erste Mal in seinem Leben hatte er die Messe verpasst. Langsam kam die Erinnerung an die Geschehnisse der vergangenen Nacht zurück. Vergeblich betete er darum, dass es nur ein Alptraum gewesen sein möge, dass jeden Augenblick seine Frau putzmunter vom Kirchgang heimkehren würde. Er rappelte sich hoch und ging in den Laden.
Die Straße war menschenleer, der letzte Kirchgänger war gerade um die Ecke gebogen. Er befürchtete das Schlimmste und hangelte sich die Treppe zum Schlafzimmer hoch, das sie seit der Hochzeitsnacht in Eintracht geteilt hatten. Sie lag auf dem Bett, den Kopf von blutbefleckten Kissen gestützt, über der Platzwunde ein Pflaster, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit geschwollen. Shaun fiel neben dem Bett auf die Knie und schluchzte bitterlich, doch seine Frau regte sich nicht und blickte nur starr zur Decke. Ein festliches Dinner zum Weihnachtstag gab es nicht. Den ganzen Tag und die ganze Nacht schaute er immer wieder unter Tränen nach ihr, brachte Kaffee und Tee und andere Getränke, aber sie lenkte nicht ein.
Erst nach drei Monaten war sie bereit, ihn als existent wahrzunehmen, und es sollten drei weitere Monate vergehen, ehe überhaupt wieder ein Wort zwischen ihnen fiel. Es dauerte zwei Jahre, bevor man sagen konnte, dass sie nicht mehr nur nebeneinanderher lebten. Das war nun schon fünfundzwanzig Jahre her. Er mied auf dem Nachhauseweg die Hauptstraßen, war nur beseelt von dem Gedanken, vor ihr niederzuknien und erneut um Vergebung zu bitten. All die Jahre hindurch hatte er es immer wieder getan, sie gebeten, sie möge ihm das Unverzeihliche, wie er es nannte, verzeihen. Niemals seit jener Nacht hatte er die Hand gegen sie erhoben, war nie gegen sie laut geworden, hatte nicht einmal ärgerlich die Stirn gerunzelt.
Als er heimkam, saß sie schweigend am Kamin. Die Gans, gerupft und gestopft, lag in einer großen Schüssel auf dem Tisch. Traditionsgemäß würde sie am nächsten Morgen in den Ofen geschoben werden. Er betrat die Küche, setzte sich sogleich zu ihr und nahm ihre Hand in die seine. Wie stets vergewisserte er sie seiner Liebe, woraufhin sie wie stets seine Hand drückte. In dieser Haltung hockten sie beieinander, wie sie es seit jener unglückseligen Nacht immer zu Heiligabend taten. Es gab kein Abweichen von dieser Gepflogenheit. Sie plauderten über das, was der Tag gebracht hatte, und überlegten, welche Messe sie am großen Festtag besuchen würden. Sie nahm das Glas Sherry, das er ihr einschenkte, und er genehmigte sich eine Flasche Stout, und beide tranken fröhlich und in Eintracht. Sie gönnten sich auch einen weiteren Schluck und noch einen und saßen eine Weile schweigend beieinander. Dann begann das große Schluchzen und Jammern. Es kam von ihm und aus tiefstem Herzen. Er kniete vor ihr nieder, vergrub den Kopf in ihrem Schoß und beteuerte in endlosen Wiederholungen, von Tränen überwältigt, wie leid ihm das alles täte. Sie nickte und lächelte dann, nahm seinen Kopf in die Hände und richtete ihn auf, und er schaute ihr in die Augen und bat sie wie in all den vielen Jahren um Vergebung.
»Ich vergebe dir, Liebster«, versicherte sie ihm und erntete erneutes Schluchzen. Nie tat sie ihm in irgendeiner Weise weh, sie hätte es einfach nicht fertig gebracht. Er war ein herzensguter Mann, wenn auch leicht reizbar, und das eine Mal, da er sich vergessen hatte, hatte er längst wiedergutgemacht. Bis in die späte Nacht hinein tröstete sie ihn liebevoll und hörte sich all seine reuevollen Beteuerungen an. Oft musste sie dabei an ihren Vater denken. Nie war er ihr oder ihrer Mutter gegenüber laut geworden. Betrunken war er oft genug gewesen, meistens bei Hochzeiten und Taufen, aber immer hatte er ihre Mutter oder sie geherzt und in den Armen geschwenkt. Sie war froh, dass sie ihrem Mann vergeben konnte, doch Vergeben war das eine, Vergessen das andere. Und vergessen konnte sie nie. Diesen Unterschied würde ihr Mann nie erfahren. Immer würde sie für ihn da sein, wenn er sie brauchte, besonders zu Weihnachten.
So will es der Brauch
Timmy Binns Gesicht war abzulesen, dass es für den Weg
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