Whisper (German Edition)
seine Hand mich traf, flog ich jedes Mal gegen irgendein Möbelstück. Ich versuchte seinen Schlägen auszuweichen, schaffte es sogar mehrmals, aber das machte ihn nur noch zorniger. Ich konnte den Alkohol in seinen Augen sehen, sah, wie langsam er manchmal reagierte. Die Tatsache, mich nicht treffen zu können, machte ihn so wütend, dass er sich einbildete, ich hätte einen Freund, weswegen ich nie nach Hause kommen würde. Er redete sich das in Sekunden so fest ein, dass er schließlich sagte, er würde mir meine Schönheit rausprügeln. Er …“ Es war das erste Mal, dass ihr ein Schluchzen entfuhr und Kino bemerkte, wie sehr sie sich anstrengte, um das zu verhindern. Dieser Moment musste der Grausamste in ihrem Leben sein. Revue passieren zu lassen, was passiert war. „… nahm … ein Messer und zog es … zog es mir durchs Gesicht.“
Absolute Stille!
„Als er das Blut sah, stachelte ihn das auf. Ich versuchte mich mit meinen Armen zu schützen, was nur kurz half. Dad zog mir das Messer über die Arme, schien sie schon bewusst zu zerschneiden. Ich habe geschrien, gebettelt, bin irgendwann zusammengefallen. Ich konnte meine Hände nicht mehr bewegen und fühlte die heißen Schnitte, wenn die scharfe Klinge durch meine Gesichtshaut fuhr. Irgendwann … ich weiß nicht wann … gab er mir einen Stoß, und ich bin durch die Glastür der Küche geflogen. Von da an weiß ich nichts mehr. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus, irgendwann, nach Tagen. Ich sah ein weißes Zimmer, ein weißes Bett, weiße Schwestern und weiße Ärzte. Ich hatte bebende Angst, weinte, und die Tränen durchtränkten den Verband, der mein Gesicht umschloss und brannte in den Wunden. Ich redete nicht viel, beantwortete keine Fragen. Sie bombardierten mich damit, ließen mir keine Ruhe, bis ich irgendwann sagte, ich würde mich an nichts erinnern. Von da an hielt man sich zurück. Ich dachte an Whisper, daran, dass ich nicht bei ihr war, dass sie mich vermissen würde. Ich wollte so schnell wie möglich raus aus dem Krankenhaus und zu Whisper, aber man ließ mich nicht. Man erzählte mir von einem Unfall, von der Glastür, davon, dass man meinem Dad wegen seiner Alkoholsucht das Sorgerecht entzogen hätte und ich Pflegeeltern bekommen würde. Man quatschte mir die Ohren von einem neuen Leben voll, von einem Neuanfang. Meine Pflegeeltern kamen mich besuchen, sprachen mit mir, bis zu dem Moment, wo ich nach Whisper fragte. Ich wollte Whisper sehen, wollte zu ihr, was anderes interessierte mich nicht. Whisper war meine Familie, mein ein und alles. Ich vertraute ihr, sie brauchte mich, ich liebte sie mehr als alles andere. Meine Whisper. Aber man ließ mich nicht. Dann kam eines Tages dieser Therapeut, dieser Mensch, der immerzu auf mich einredete, mir Fragen stellte und Antworten wollte, die ich ihm nicht geben konnte. Er erzählte mir von einem Pferd. Einem Pferd, das es nicht mehr gab, weil es alt war …“ Jasmin schluckte, verstummte für einen Augenblick und holte tief Luft. Wie schwer musste dieser Gedankengang für sie sein. „Man hat sie fortgebracht. Man hat meine Familie, alles was ich hatte, alles was mir etwas bedeutet hat, einfach fortgebracht. Whisper starb auf einem Schlachthof! Man hat sie fortgeholt, um sie zu töten!“ Wieder ein Zögern. Selbst Kino hatte den Kopf gesenkt und kämpfte hart mit den Tränen. Was musste in einem Menschen vorgehen, dem man alles nahm, was wichtig für ihn war? „Zuerst war ich wie gelähmt, dann setzte mein Hirn aus. Ich lief nur mit einem Hemd und einer Jogginghose bekleidet aus dem Krankenhaus. Barfuß wie ich war, führte mein Weg zum Stall. Es war bereits dunkel, abends, es war kalt. Aber ich wollte Gewissheit, konnte es nicht glauben. Der Stall war verschlossen. Der Trick, um die Tür zu öffnen, war immer noch derselbe. Ich ging in die Stallgasse, zu Whispers Box. Sie war leer. Ich suchte Whisper im ganzen Stall, auf den Weiden, fühlte mich verzweifelter als je zuvor. Kein Schlag meines Vaters hätte so schlimm sein können, wie die Tatsache, dass ich Whisper nicht mehr fand. Draußen rannte ich kreuz und quer über die Wiesen, durch den Wald, zerschnitt mir die Füße, zerriss mir eine Sehne in der Hand, aber es war mir egal. Irgendwann hockte ich mich auf einen umgefallenen Baum, weinte und schrie … Ich weiß nicht mehr, wann man mich gefunden hat. Ich kam zurück ins Krankenhaus. Man redete soviel mit mir, aber ich wollte nichts mehr von all dem Zeugs hören. Man … man hatte
Weitere Kostenlose Bücher