Whisper (German Edition)
Neugierig hatte er das Gespräch verfolgt, hatte mit wachsender Interesse Stefans Schilderung über den angeblichen Unfall gelauscht. Ein Unfall, der keiner gewesen war, so glaubte er mittlerweile zu wissen. Jasmin hatte ihm durch die Blume vieles erzählt, ließ aber die Wirklichkeit im Verborgenen. Amnesie! So ein Blödsinn. Jasmin wusste besser um ihre eigene Vergangenheit bescheid, als behauptet worden war. Vielleicht kam Christinas letzte Aussage sogar sehr dicht an die Wahrheit heran. Hatte sie aufgehört zu sprechen, weil sie in Ruhe gelassen werden wollte? Oder vielleicht auch, weil ihr niemand richtig zugehört hatte? Richtig zugehört?
Als er eine leichte Bewegung ihrer Hand spürte und einen Blick auf sie warf, bemerkte er, wie einige wenige Tränen unter ihren geschlossenen Augen hervorquollen, und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass Jasmin sehr viel mehr mitgehört hatte, als er zuerst gedacht hatte. Diese stillen, stummen Tränen, die ohne Regung, ohne Schluchzen, ohne einen wirklichen Ton über ihr Gesicht liefen, hatten einen tiefen Hintergrund. Er hatte sie bereits mehrmals gesehen, von der Verzweiflung gekostet, die von ihr ausging, und diese Tränen als unheimlich empfunden. Sie waren so emotionslos und doch wieder voller Gefühle.
Kino erschrak vor ihren plötzlichen Worten, die so schnell kamen, dass er gar keine Möglichkeit hatte, sich darauf einzustellen. Und das, was sie sagte, sorgte dafür, dass sich seine Organe zusammenzogen und sein Herz ein paar Takte aussetzte.
„Es war kein Unfall!“
Augenblicklich wurde es still in der Hütte. Alle Blicke richteten sich auf Jasmin, die sich leicht aufsetzte und ihre tränennassen Augen öffnete. Stefan und Patrick, die mit dem Rücken zu ihr saßen, drehten sich um. Jasmin vermied es irgendjemanden anzusehen, sondern richtete ihren Blick starr gegen einen unbekannten Punkt auf der gegenüberliegenden Wand. Kino strich ihr ganz sanft über den Rücken, ließ seine Hand dort, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht allein war, denn er spürte, dass genau das jetzt kommen würde, was unter dem Deckmantel Unfall versteckt worden war.
„Es ist nie ein Unfall gewesen!“, wiederholte sich Jasmin, schloss einmal kurz ihre Augen, senkte den Kopf, schluckte, um ihn dann wieder zu heben.
„Ich war noch ganz klein“, anfänglich bebte ihre Stimme, wurde aber immer sicherer, „als ich zum ersten Mal wirklich mitbekam, wie meine Mum …“ Jasmin stockte, senkte wieder den Blick und Kino wurde klar, wie schwer es ihr fiel, die Worte zu finden, die das beschrieben, was sie fühlte und was sie in sich trug, „von meinem Dad verprügelt worden ist. Ich wusste nicht was Alkohol war, ich hatte keine Ahnung von Trunkenheit, was ich wusste, war, das mein Dad ständig stank, wenn er nach Hause kam, dass er anders war als sonst, und das meine Mutter oft weinte, schon mal aufschrie, aber ich hatte keine Ahnung, was mein Dad mit ihr tat. Eines Tages stand ich in der Tür, die er vergessen hatte zu schließen und sah, wie er meine Mum schlug, sodass sie gegen die Wand flog. Ich …“Jasmin verhielt wieder, biss sich auf die Lippen. Es war zu erkennen, wie sich ihre Augen einmal mehr mit Tränen füllten, doch ihre Stimme blieb glasklar und unberührt. „Ich habe geweint, ihn gebeten aufzuhören. Aber er war so rasend vor Zorn, dass er mich nicht bemerkte, und meine Mum schrie, ich solle verschwinden. Das tat ich auch. Ich verließ die Wohnung, lief zu einer Nachbarin. Ich habe meine Tränen weggewischt und so getan, als käme ich zum Spielen. Das war nichts Neues. Niemand schöpfte Verdacht und nichts kam raus.“ Jasmin machte eine kurze Pause. Die Stille in der Hütte wurde nur durch das zarte Knacksen im Ofen etwas gestört. „So ging es eine Zeitlang dahin. Ich ging meinem Dad aus dem Weg und lernte, dass es seine Trinkerei war, die ihn dazu trieb, meine Mum zu schlagen. Meine Mum weinte sehr viel. Sie hatte Angst. Jedes Mal, wenn sie die Schritte von meinem Dad hörte, hatte sie bebende Angst, bis sie es irgendwann nicht mehr aushielt. Eines Tages fand man meine Mum im Park. Sie war tot. Man sagte mir, dass ihr Herz aufgehört hätte zu schlagen. Von da an war ich allein mit meinem Dad. Ich wusste damals nicht, was auf mich zukommen würde, erfuhr es aber recht bald, denn von da an richtete sich sein Zorn gegen mich und ich lernte, was es hieß, geschlagen zu werden.“ Man konnte sehen, wie die Zuhörer schluckten. Nur zu gut konnten sie sich die
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