Whisper (German Edition)
diese Fehler irgendwann zu erkennen und auszubessern, und hier saßen ein paar Jugendliche, die erkannt hatten, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten. Sie hatten jemanden abgestempelt, ohne demjenigen die Chance zu geben, zu zeigen, wie er wirklich war. Sie waren grausam gewesen, respektlos, ekelhaft, und waren geschlossen auf jemanden losgegangen, der äußerlich anders war. Stefan wusste, wie das war. Er hatte selbst vor Jahren zu dieser Sorte Mensch gehört. Geglaubt, alle Rechte der Welt zu besitzen. Er hatte ausgeteilt, unschön und mächtig, und war im Ellbogenstoßsystem durchs Leben gegangen. Respekt, ein Fremdwort, Gleichgültigkeit, … er kannte das Wort in - und auswendig, hatte lange danach gelebt.
Heute sah er es anders. Auch ihn hatte die Wildnis gedreht. Sie hatte ihm gezeigt, wie wichtig es war, Respekt zu haben und füreinander da zu sein, niemanden zu verurteilen und mit Hirn und Verstand an jedes Problem heranzugehen. Die Wildnis zeigte ihm auch heute noch, wie bitter das Leben sein konnte, aber auch wie schön, wenn man nur ein wenig hinsah. Es war grausam ein zerfetztes Tier vor Augen zu haben, welches den nächtlichen Kampf ums Überleben nicht bestanden hatte, aber es berührte, wenn eine Bärenmutter ihre Jungen durch den Wald führte und wie eine Tigerin über sie wachte.
„Ich würde gerne wissen, wie ihr das passiert ist!“ Edith hatte leise gesprochen, verschluckte sich fast an den letzten Worten, wagte aber dabei einen Blick in die anderen Gesichter. Nein, sie war definitiv nicht die Einzige, die das wissen wollte, war sich aber auch nicht ganz sicher, ob sie diese Frage überhaupt stellen durfte. Ging das irgendjemanden was an? Durfte man wissen, was geschehen war? Oder griff man dabei in die Privatsphäre eines jungen Menschen? Wollte Jasmin überhaupt, dass man es wusste? Es war nicht mehr die pure Neugier, die ihnen aus den Augen schaute, sondern eine gewisse Anteilnahme. Was war Jasmin Bernhard passiert?
„Stefan, weißt du etwas über ihre Geschichte?“ Wieder eine eher leise gestellte Frage. Als ob es jemanden geben würde, der ihnen auf den Mund klopfen könnte, nach dem Motto „He, so etwas fragt man nicht!“
Trotzdem starrten die Kids gebannt in Stefans Gesicht, zeigten Enttäuschung, als er den Kopf schüttelte.
„Man hat uns von einem Unfall erzählt“, erklärte er ebenso leise. „Sie ist angeblich in eine Glasscheibe gefallen, die sich dann gelöst hat. Ich weiß wirklich nichts Genaues. Ihre Eltern wollten darüber nicht weiter reden. Sie sprachen von einem Trauma, von schwerer Persönlichkeitsstörung und hoffen, ihr mit der Reise helfen zu können, ihr jetziges Leben zu akzeptieren. Ich glaube herausgehört zu haben, dass ihre jetzigen Eltern nicht ihre leiblichen sind. Offiziell wurde das nicht bestätigt, doch das Verhalten Jasmins ihren angeblichen ´Eltern` gegenüber, war sehr distanziert und trocken. Ist aber nur so eine Vermutung. Man sagte uns, dass Jasmin ihres Unfalls wegen aufgehört hat zu sprechen. Es soll mit ihrem Trauma zu tun haben. Tiefe Bewältigungsstörungen, oder wie man das genannt hat. Angeblich soll sie auch unter einer kurzzeitigen Amnesie gelitten haben, da sie sich an gewisse Details ihres Unfalls betreffend, nicht mehr erinnern kann. Ob das alles so stimmt, weiß ich nicht. Mehr kann ich nicht sagen.“
„Was ist eine Amnesie?“ Edith sah Stefan fragend an.
„Gedächtnisverlust!“, antwortete Markus schnell. „Wenn man alles oder auch nur gewisse Teile seiner Erinnerung vergisst!“
„Und das hatte sie?“
Stefan setzte sich etwas besser zurecht.
„Angeblich ja. Sie muss lange im Krankenhaus und danach fast nur in Therapien gewesen sein, wo man ihren Eltern die Adresse von Six Soul gegeben hat. Sie haben behauptet, dass Jasmin kaum noch etwas von ihrem Unfall weiß. Sie wurde anscheinend sehr schweigsam, als sie ihr Gesicht zum ersten Mal nach dem Unfall gesehen hat und beschloss vermutlich daraus überhaupt nicht mehr zu sprechen. Deswegen auch ihre vielen therapeutischen Behandlungen. Ich denke, dass ihr Leben in den letzten Monaten nur noch aus Ärzten bestanden hat.“
„Ich weiß nicht“, Christina schüttelte den Kopf, „ich würde auch vergessen wollen, wenn mir sowas passiert wäre. Vielleicht ist das der Grund, warum sie nicht mehr gesprochen hat, weil sie einfach ihre Ruhe haben wollte.“
Kino hatte irgendwann eine Regung in Jasmins Körper gespürt, doch sie ließ ihre Augen geschlossen.
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