Whisper (German Edition)
an, bevor er sie wieder ausstieß. Wie einfach es doch in München war. Es gab tausende Leute, die man anrufen konnte, um auf sich aufmerksam zu machen. Wen sollte man hier draußen anrufen? Meister Petz, wohnhaft rechts, an der dritten alten Kiefer vorbei und dann links in der kleinen Höhle?
„Notruf!“ Jasmin hob energisch den Finger. „In Deutschland gibt es einen Notruf für alle Fälle, sogar einen Euronotruf. Hier in Kanada sind wir nicht auf dem Mond, auch die haben bestimmt einen Notruf?“
„Und der lautet?“ Patrick hatte das Telefon wieder erhoben. Jasmin zuckte mit den Achseln.
„Keine Ahnung. Versuchs mit 911. Der gilt in den USA, vielleicht funktioniert der auch in Kanada.“
Patrick ließ sich nicht lange bitten. Sorgsam wählte er die 911. Es knackte in der Leitung und er bekam tatsächlich ein Freizeichen. Wieder hob er den Daumen nach oben und wartete. Und endlich hob jemand ab. Wie sich der Typ genau meldete, verstand er nicht, aber das war auch nicht so wichtig. Wichtig war, dass er begriff um was es ging.
„Wir sind hier eine Reihe von Jugendlichen, die auf der Six Soul Ranch etwa 350 km von Kamloops entfernt, eeeehhhm, urlauben. Wir sind bei einem der Trecks von Wilderern überfallen worden und irren nun ziellos durch den Wald. Wir haben hier ein Auto aufgebrochen und das Telefon an uns genommen. Wir brauchen dringend Hilfe …“
Beim Schrei der Raben fiel ihm fast das Telefon aus der Hand. Jasmin fackelte auch nicht lange, sondern riss es an sich, drückte es aus und steckte es in ihre Jacke.
„Mach aus, schnell“, raunte sie Patrick zu, der erschrocken und mit zitternden Fingern auf die Fernbedienung drückte. Surrend klappte der Schirm wieder zusammen. Hektisch fuhr er den PC herunter und schloss den Koffer. Jasmin hatte nach dem Autoschlüssel gegriffen und platzierte ihn rasch wieder auf der Achse des Anhängers.
„Los, hauen wir ab.“
Patrick schnappte sich den Koffer des Laptops und rannte in den Wald. Er achtete nicht auf sich, als er sich durch die Büsche warf, die Zweige an seiner Kleidung und seinen Haaren rissen, sondern jagte einfach weiter, in der Hoffnung, Jasmin würde ihm am Fuß folgen. Er sprang über Wurzeln, Baumstämme, atmete heftig, fühlte, wie sein Herz bis hin zum Hals klopfte und betete, die Pferde würden noch dort stehen, wo sie sie zurückgelassen hatten. Nicht einmal blieb er stehen, nicht einmal sah er zurück. Erst als er Toms dunkle Gestalt zwischen den Bäumen stehen sah, wurde er etwas langsamer. Patrick keuchte heftig, als er das Tier erreichte, spuckte und wandte sich um. Aber der Platz hinter ihm war leer.
„Jasmin!“ durchfuhr es ihm heiß und er stellte mit Entsetzten fest, dass das Mädchen nicht nur etwas zurückgeblieben war, sondern ganz fehlte. Verdammt, und wo war das komische, gelbe Pferd? Verwirrt blickte er sich um. Hatte sie sich von Tom wegbewegt, stand sie vielleicht hinter einigen anderen Bäumen, getarnt vom Sonnenlicht? Patrick spürte Panik in sich aufkeimen. Wieder blickte er in die Richtung, aus der er gekommen war. Dezent konnte er Stimmen vernehmen. Mehrere Stimmen. Sie waren weit weg, verstehen konnte er absolut nichts. Oder bildete er sich das schon ein?
Aus Angst um seine Begleiterin legte er den Koffer in die Büsche und lief den Weg zum Auto nochmal zurück. Vielleicht war sie lediglich gestürzt und konnte nicht mehr hoch. Deswegen mussten die Wilderer sie nicht gleich gefunden haben. Und wenn doch? Verdammt, er musste ihr helfen. Sie konnte sich doch nicht wehren. Sie war doch … die Panik um sich selbst verblasste, dafür machte sich Angst um Jasmin in ihm breit. Er sah sie vor sich, mit all ihren Narben im Gesicht, den Händen, die ihr Vater zerschnitten hatte, und die sie nur wieder bewegen konnte, weil ein paar Ärzte ein wahres Wunder an ihr vollbracht hatten. Aber sie war nicht in der Lage, sich irgendwie zu wehren.
Patrick nahm die Beine abermals in die Hand. Beflügelt von der Angst, Jasmin könnte etwas passieren, jagte er zurück. Sein Herz schlug heftig gegen seine Brust, die Lungen brannten. Normalerweise hatte er immer seine virtuellen Figuren laufen lassen. Selbst zu rennen war anstrengender als er gedacht hatte.
Er hatte gerade Mal die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als er eine Pause machen musste. Seine Beine protestierten und er hatte das Gefühl, nicht in der Lage zu sein, so viel Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen, wie er derzeit verbrauchte. Schnaufend warf er einen
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