Whisper (German Edition)
auf den Bildschirm.
„Wir haben sie!“
16
J asmin spürte eine deutlich innere Unruhe, während sie sich auf Mysterys Rücken durch den Wald tragen ließ, und irgendwas sagte ihr, die Stute zu einem schnelleren Tempo anzutreiben. Die Raben, auch sie kreisten aufgeregt über den Baumkronen und krächzten wie zwei spielende Jungvögel, die um ein Beutestück stritten. Aber Jasmin wusste, dass es kein Spiel war. Sie spürte ihr eigenes Herz klopfen, fühlte, wie ihr Blut durch die Adern rauschte und ahnte, dass etwas kommen würde, mit dem sie nicht rechnen konnte.
Mystery suchte sich im Trab ihren Weg. Jasmin musste mehrmals unter den Ästen durchtauchen, um nicht daran hängen zu bleiben. Mehrmals klatschten die Zweige gegen ihre Arme und Beine, ihre Kleidung wurde teils zerrissen, einmal wurde sie selbst fast vom Pferd gezogen. Aber eben nur fast.
Als sich die Bäume dann etwas lichteten und sich wenig später eine Lichtung vor ihr erstreckte, fiel die Stute in leichten Galopp. Jasmin beobachtete die Raben, wie sie dicht aneinander gedrängt über ihren Kopf hinweg segelten und weit über die Lichtung schwebten. Das Mädchen hatte den Gedanken im Kopf die Wilderer zu stoppen. Sie wollte keine Jungtiere mehr im Wald finden, die ihre Mütter durch Brachialgewalt verloren hatten, und auch der Anblick eines zerstückelten Kadavers war ihr ein Gräuel. Es war für sie absolut unverständlich, wie man ein Tier, ein Lebewesen, welches fühlte und auch litt, auf die Weise, wie sie es gesehen hatte, töten konnte, um an Dinge wie eine Galle zu gelangen, sich des Felles zu bemächtigen, oder auch nur, um deren Zähne aus dem Kiefer zu schälen, die dann anderen, hübsch geschliffen, als Schmuck verkauft wurden. Der Wald, durch den sie ritt, er verbreitete Ruhe und Frieden, Harmonie, ein seliges Gefühl des Gleichgewichtes. Hier stimmte einfach alles. Es gab keine hirnlosen Streitereien, keine Gewaltattacken, keinen inneren Schmerz, keine bösen Worte, keine Therapeuten oder Psychologen. Niemand, der ihr sagte, dass es das, was sie sah, spürte und empfand, nicht gab, und der sie in eine Welt pressen wollte, die nicht die ihre war. Jasmin wusste durchaus, dass auch in diesem Teil der Welt der Frieden nicht ungetrübt war. Gar nicht weit von hier gab es genauso das, vor dem sie in München weggelaufen war, und auch in dieser Wildnis kämpften Tiere und Pflanzen ums nackte Überleben. Jeder auf seine Weise und mit den Fähigkeiten, die er hatte. Aber es war ein natürlicher Kampf, gleich und abgewogen. Und sie fühlte sich wohl in dieser Aura, die ihr geboten wurde. Ein Tierkadaver war für sie keine weitreichende Tragödie. Wenn Berglöwen, Bären oder Wölfe Beute machten, hinterließen sie öfter Kadaverteile. Das war ihr nicht unbekannt. Genauso wie das Wapiti oder der Elch, mussten sich auch der Bär, der Wolf, der Berglöwe oder andere Raubtiere von etwas ernähren. Ein eingespieltes Gleichgewicht. Aber es erfüllte sie mit heißem Zorn zu sehen, wie respektlos Menschen in diese Welt eindrangen, Fallen aufstellten, Angst, Schmerz und Leid verbreiteten, und wirkliche Tragödien herstellten. Jungtiere starben mit, wenn deren Mütter getötet wurden, starke, gute Tiere konnten sich nicht mehr vermehren, wenn man sie auf brutalem Weg tötete, Gruppen wurden auseinandergerissen, und die Tiere lernten den Menschen definitiv von der grausamsten Seite kennen. Sie hatte erfahren, wie es war, wenn einem Schmerz zugefügt wurde. Sie wusste, wie sich Todesangst anfühlte, wie sich das Gefühl einnistete, vielleicht nicht zu überleben, und wie gleichgültig man seinem eigenen Tod entgegenblicken konnte. Sie hatte erlebt, wie automatisch man versuchte zu überleben, ohne es eigentlich wirklich zu wollen, und sie hatte es geschafft, ohne es angestrebt zu haben. In diesem Moment war sie dankbar, nicht aufgegeben zu haben und war stolz darauf, Instinkte zu besitzen, die es ihr ermöglicht hatten, weiterzuleben. Wenn sie nun in irgendeiner Form verhindern konnte, dass die Wilderer den Wald weiterhin verunsicherten, dann wollte sie das tun.
Jasmin wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Mystery plötzlich über einen Baumstamm sprang und dabei etwas strauchelte. Das Mädchen war unkonzentriert nicht bei der Sache, hielt sich zwar noch mit einem schnellen Griff an der Mähne fest, konnte aber nicht verhindern, dass sie von dem glatten Rücken des Pferdes rutschte. Sie kam unsanft mit einem Fuß irgendwo auf, fiel nach hinten
Weitere Kostenlose Bücher