Whisper (German Edition)
er sofort bei der Hand nahm.
„Warum bist du nicht heimgeritten?“, fragte er in seiner unbekümmerten, kindlichen Art und sah das Mädchen dabei aus großen Augen an. „Mummy hat versucht, Tom einzufangen. Aber er hat sich nicht einfangen lassen, auch nicht mit Futter. Ist Tom ausgerissen? Hat man dich deswegen geholt?“
Tom? Verständnislos hob Jasmin den Kopf und traf Susannas Blick. Was war mit Tom? Sie hatte ihn doch im Wald zurückgelassen, bei Patrick. War Tom weggelaufen?
„Das stimmt!“ übernahm Susanna die Antwort, griff nach Jasmins Schulter und drehte sie Richtung Waldrand, um dann mit dem Arm zu den Bäumen zu deuten.
„Dort steht er schon seit einer Weile, aber er lässt sich nicht einfangen. Jedes Mal, wenn wir uns ihm nähern, galoppiert er weg. Tom ist normalerweise ein sehr friedliches und zutrauliches Pferd. Unkompliziert in jeder Hinsicht. Verfressen und einfach. Solche Dinge sehen ihm nicht ähnlich. Aber bisher hat er sich mit nichts anlocken lassen. Es ist fast so, als würde er auf etwas warten.“
Tom war schwarz, der Waldrand dunkel, aber sie konnte ihn dennoch erkennen. Er stand dort und graste, komplett mit Sattel, Zaumzeug und vermutlich wehenden Zügeln. Also hatte sich der schwarze Wallach einmal mehr verselbständigt und war allein nach Hause gegangen. Tom, das Pferd mit dem etwas dummen Gemüt, welches ihn so sehr beliebt machte? Hatte das Tier in den letzten Stunden nicht gezeigt, dass er alles andere als dumm und zu Handlungen imstande war, die man Pferden generell nicht zutraute?
„Ich gehe ihn holen!“
Es waren feste Worte, ein ganzer Satz, klar und deutlich ausgesprochen, so wie es tausende Leute auf der Welt machten. Niemand sollte sich dabei etwas denken, und obwohl jeder bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen, konnte man das Prickeln in der Atmosphäre deutlich spüren. Bis auf Patrick hatte bisher noch niemand Jasmins Stimme gehört, sondern sich daran gewöhnt, dass es nur Zeichen gab, mit denen sie sich äußerste. Worte aus ihrem Mund, es hatte etwas Spezielles.
Jasmin bemerkte die anhaltende Stille sehr wohl, ließ sich davon aber nicht weiter beeindrucken, sondern schob Bobby auf die Seite, trat ruhig an Susanna vorbei, beachtete weder Jaro noch Kinsky, und bewegte sich über den Parkplatz hin zu den Wiesen, die sie zum Waldrand führen würden.
„Mummy!“ Mit strahlenden Augen sah der Knirps an seiner Mutter hoch. „Mummy, ich habe sie zum ersten Mal reden gehört. Sie hat eine schöne Stimme. Ich glaube, sie kann gut singen!“
Es löste die Spannung. Susanna musste lächeln, als Bobby sie bei der Hand nahm und dabei ein breites Grinsen im Gesicht hatte. Singen! Wie einfach er doch noch dachte. Für ihn war Singen das Normalste der Welt, während für alle anderen ihre ersten Worte, ohne Hilfsmittel wie Funkgerät oder Telefon, an ein kleines Wunder glauben ließen.
„Ich habe doch gesagt, sie redet wie ein Wasserfall.“ Patrick blickte von einem verwunderten Gesicht ins Nächste. „Sie hat die ganze Zeit geredet, sonst wären wir vielleicht jetzt nicht hier. Jasmin ist okay. Und wenn sich von euch jetzt nicht grundsätzlich alle blöd anstellen, dann redet sie auch weiterhin, und verfällt nicht wieder in dieses hirnlose, grässliche Schweigen.“
Seine Maßregelung saß und Kinsky erlernte in diesem Moment für sich etwas ganz Neues. Bisher war er derjenige gewesen, der den Kids auf seiner Ranch, Achtung, Respekt, Regeln und Grenzen beigebracht hatte. Doch diesmal war es eines dieser Kids, welches ihm sagte, über das eigene Verhalten richtig nachzudenken, damit Menschen wie Jasmin sich nicht wieder verkrochen. Ihr Schweigen war gebrochen. Aber es war kinderleicht mit den falschen Äußerungen genau das wiederherzustellen. Das Bedürfnis zu sprechen und sich mitteilen zu wollen, war bei Jasmin weit schwerer zu erhalten, als sie wieder dorthin zurückzustoßen, wo sie lange genug gewesen war. Es stimmte. Wenn sie sich nicht ganz blöd anstellten …
„Ohne Jasmin hätte es anders ausgesehen“, bemerkte Patrick weiterhin, wobei sein Blick auf ihre ruhte, während sie zum Waldrand lief. „Ohne sie würde Judith noch immer in der Bärenfalle stecken und Kino unterm Baum hängen.“
Niemandem war die Geschichte mehr unbekannt. Patrick hatte ihnen die Geschehnisse in groben Zügen erzählt, weshalb das Rettungsteam, welches zur Jagdhütte aufgebrochen war, auch wusste, mit was es zu rechnen hatten. Seit Patrick und Jasmin ihren Notruf
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