Whisper (German Edition)
gewesen wäre, hätte man nicht geschafft, was man geschafft hatte. Und dann kamen ihr die Bilder des toten Bären ins Gedächtnis zurück. Bilder, die ihr von einem verletzten Kalb gezeigt worden waren. Ein toter Bär, enthauptet, mit abgeschnittenen Tatzen und aufgeschlitztem Bauch. Wie eng lag doch Gut und Böse aneinander. Auf der einen Seite verhinderte das Können einiger Menschen, dass sie zum Krüppel wurde, auf der anderen Seite töteten Menschen aus reiner Gier ein Wesen dieser Welt, weil es etwas hatte, was man zu Geld machen konnte. Gut und Böse, Leben und Tod, man bewegte sich irgendwo dazwischen und schätzte es nicht, wenn man lebte.
Jasmin war so sehr in Gedanken versunken, dass sie nicht merkte, wie sich die Tür öffnete. Stefan streckte seinen Kopf zur Tür herein, wobei sein Blick auf ihre zerschundenen, roten, verletzten und blutenden Füße fiel.
„Jasmin!“
Das Mädchen zuckt so heftig zusammen, dass sie fast vom Bett fiel.
„Jasmin“, rief er erneut aus, kam unaufgefordert herein und warf einen entsetzten Blick auf ihre Beine. „Halleluja, was ist denn das? Großer Gott, du bist ja komplett wund. Das sollte sich aber fix jemand ansehen. Mein lieber Scholli, du hast dir die Füße aber ganz schön kaputtgelaufen. Wieso hast du denn nichts gesagt …?“
Er war näher getreten, hatte sich neben sie gehockt und hielt in dem Moment inne, als er den letzten Satz beendet hatte. Sagen? Nur weil sie mit Kino gesprochen hatte, redete sie noch lange nicht wie ein Wasserfall. Ganz im Gegenteil. Ihm und den anderen gegenüber blieb sie wortlos und versteckt.
„Soll ich Susanna holen?“, fragte er etwas ruhiger, um sie nicht noch weiter von sich zu treiben.
Keine Antwort. Irgendwie beschämt drehte sie lediglich den Kopf weg.
„Ich hole Susanna. Sie soll sich um deine Beine kümmern.“
Stefan strich ihr sanft übers Knie, stand auf und verschwand zur Tür hinaus.
„Nicht weglaufen. Ich bin gleich wieder da.“
Oh, das bezweifelte Jasmin nicht im Geringsten. Stefan schloss die Tür, während sie sich aufseufzend etwas zurücklehnte. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, einmal mehr Aufsehen zu erregen. Aber das war wohl so. Wo sie auftauchte, drehte sich automatisch alles nur noch um sie. Dank ihres Antlitzes, dank ihrer Verschlossenheit, ihrem Bemühen, alles richtig zu machen und aufgeben zu müssen, wenn sie nicht zupacken konnte, ihrer Zurückhaltung wegen, ihrer Bereitwilligkeit, überall mit anzufassen, es gab nichts, wo sie kein Aufsehen erregte. Irgendwie stand sie immer wieder im Mittelpunkt, ungewollt.
Leicht frustriert griff sie nach den Zeichnungen, die sie unter ihrem Kopfkissen verwahrte. Ein Pferd, golden, mit weißer Mähne, weißem Schweif, vorne zweimal weiß gefesselt, hinten zweimal weiß gestiefelt, mit einer Blesse, die beim Wirbel begann, sich schmal übers Gesicht zog und über die rechte Nüster verlief. Die Bilder zeigten das Pferd im Stand, steigend, galoppierend, trabend, springend. Aber nie war es gehalftert, gezäumt oder gesattelt. So war es ihr nie erschienen. Dieses Pferd erschien ihr immer nur allein, im Traum, in ihren Vorstellungen. Manchmal stand es einfach nur da und starrte sie an. Jasmin lächelte kurz, betrachtete ein Blatt nach dem anderen, bevor sie sie beiseitelegte und sich auf dem Bett ausstreckte. Sie hatte versucht, Whisper zu zeichnen. Es gelang ihr nicht. Es wurde nie Whisper. Aber dieses Pferd hatte sie klar und deutlich vor sich, warum auch immer.
Das Mädchen richtete sich leicht auf, als sich die Tür abermals öffnete. Susanna kam herein, gefolgt von Stefan und Kino. Die Frau kam sofort zu ihr, kniete nieder und sah sich die Füße an, die Jasmin vom Bett hängen ließ.
„Ich hätte dem heute Vormittag, nein, eigentlich schon gestern mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, verdammt“, schimpfte sie ärgerlich mit sich selbst und sah das Mädchen strafend an. „Du bist dumm Jasmin. Hätten wir die Wunden gestern behandelt, wäre es vielleicht heute nicht so schlimm.“
Das Mädchen senkte den Kopf. Was hätte sie tun sollen, über den Boden fliegen? Sie erschrak, als plötzlich noch jemand in ihr Zimmer trat, beruhigte sich aber, als sie Jaro erkannte, der sich jetzt ebenfalls zu ihr kniete, ihre Füße in die Hand nahm und das Ausmaß ihrer Verletzungen betrachte. Kino setzte sich neben sie, berührte sie sanft mit seinem Arm, verzichtete aber auf einen weiteren Kontakt zu ihr, sondern beobachtete seinen Vater, der erst nach
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