Whisper (German Edition)
sehr sensibel ausgefallen. Aber er hatte ihr leises Flüstern vernommen, gemerkt, wie sie sich mit der Seele des Bären verbunden hatte. Die Endgültigkeit des Todes hatte sie schwer getroffen. Mit Whisper hatte sie schnell gelernt, wie es war, etwas zu verlieren, was man liebte. Aber sie hielt an dieser Zuneigung fest, was es ihr ermöglichte, mit der alten Stute in Kontakt zu treten, auch über ihren Tod hinaus, was dafür verantwortlich war, dass sie jetzt sehr sensibel reagierte. Jasmin spürte mehr als jeder andere, sie glaubte an diese tiefen Bindungen und sie ließ ganz offen weitgreifende Emotionen zu. Kino hatte viele junge Menschen kennengelernt, die aus jenem Leben kamen, welches man Zivilisation nannte, die ihrer Kurzzeitnaturliebhaberei frönten, Träumen nachhingen, aber dann wieder in jenes Leben zurückkehrten, das sie kannten und gewohnt waren. Sie hatten kein Feeling für die Wildnis, für die Tiere die darin lebten, für das eigene Gefühl, welches einem wiederfahren konnte, wenn man die Natur tief in sich drinnen spürte. Kino schob vieles auf sein indianisches Erbe und auf seinen Großvater, der ihm gezeigt hatte, seinen Lebensraum von einer anderen Seite zu sehen. Er glaubte an die Magie der Erde, an die Macht der Elemente, an den Großen Geist, unter dessen Hand dies alles gedeihen durfte, und wusste um den Respekt, der niemals verebben durfte.
Jasmin war anders groß geworden, aber er wagte zu wetten, das Whisper, und wie gern hätte er dieses Wesen zu Lebzeiten kennengelernt, einen entscheidenden Teil dazu beigetragen hatte, dass sie heute war, wie sie war. Sein Großvater hatte recht gehabt. Die Raben leiteten sie, und der Grizzly würde sie schützen.
Schweigend ritten sie zur Six Soul Ranch zurück. Kino versuchte nicht weiter auf Jasmin einzureden oder in sie zu dringen, da er vermutete, dass sie einmal mehr in ihre alte Schweigsamkeit verfallen war. Trotz allem fühlte er sich glücklich. Sie hatte ihre Tür zu sich einen Spaltbreit geöffnet, mit ihm gesprochen, nicht nur Wörter, sondern ganze Sätze, und er war sich fast sicher, dass sich das wiederholen würde, an einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit. Auf Six Soul war sie die stille, schweigsame Jasmin. Es würde Zeit brauchen, bis sie soviel Vertrauen hatte, sich auch hier zu öffnen, zu sprechen und Kontakten nicht mehr aus dem Weg zu gehen.
Als sie über den Hof ritten, kam ihnen Taps bellend entgegen. Kino erkannte den Pick Up seines Vaters und auch Dans Jeep. Er ahnte, dass die Schüsse auch auf Six Soul nicht ungehört geblieben waren. Zielstrebig ritt Kino an die Anbindestange heran und rutschte aus dem Sattel. Er war noch nicht ganz am Boden, als sich die Tür zum Haupthaus auch schon öffnete.
„Kino“, brüllte Stefan, „gut, dass ihr da seid. Jaro und Dan haben auf euch gewartet.“
Stefan kam im Laufschritt auf ihn zu und beobachtete, wie Jasmin aus dem Sattel sprang. „Habt ihr die Schüsse gehört?“
Kino löste den Sattelgurt und bemerkte Jasmins unbeholfenen Versuch, dasselbe zu tun, was ihr aber dank fehlender Kraft nicht gelingen wollte. Unbemerkt winkte er seinem Freund zu, deutete auf Jasmin und war froh, dass die stille Post einmal mehr bestens funktionierte.
„Ihr solltet rein gehen“, forderte er die beiden auf und zwinkerte Kino zu, „ich mache die Pferde fertig und bringe sie in den Stall.“
Kino nickte erleichtert. Er wollte Jasmin bei der Hand nehmen, sie mit ins Haupthaus nehmen, reagierte aber überrascht, als sie sich vor ihm zurückzog, ihm einen kurzen Blick zuwarf, zart den Kopf schüttelte, sich umdrehte und Richtung Stefans Haus verschwand. Dieser sah Kino merklich verwundert an.
„Na“, bemerkte er vorsichtig, „habt ihr gestritten?“
Kino seufzte auf und ein seltsamer Ausdruck lag in seinem Gesicht.
„Nein, eigentlich nicht.“ Unschlüssig blickte er zwischen den Pferden und dem Haus hin und her und beobachtete, wie Jasmin die Tür hinter sich zuschlug, „Ich denke, dass momentan einiges in ihr vorgeht. Sag, haben ihre Eltern jemals erwähnt, dass sie ein Pferd hatte?“
„Du meinst, Whisper war ein Pferd?“ Stefan überlegte kurz, schüttelte aber dann den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Sie haben allerhand mit Janina besprochen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ein Pferd im Gespräch gewesen ist. Hauptthema war lediglich der Unfall!“
Kino blickte noch einmal zur Haustür, bevor er sich Stefan zuwandte.
„Unfall, ja?“ Sein Gesicht versteinerte
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