Whisper (German Edition)
und sah zu, wie sie sie wieder zusammenrollte und das Band darum verschloss.
Er war sich sicher, dass das letzte Bild jenes war, welches sie zuletzt gemalt hatte. Aus welchem Grund? Wieso hatte sie das Gesicht des Tieres derart verunstaltet, und wieso lebten diese Bilder so derart deutlich? Wieso glaubte er, betroffen zu sein, wenn ihn eine Zeichnung anstarrte?
Kinos Großvater beobachtete die Szenerie und hatte, trotzdem er die Zeichnungen nicht direkt gesehen hatte, doch das Pferd darauf erkannt und wusste, was in Kino vorging. Er spürte, dass es nicht nur eine gewöhnliche Zeichnung war, sondern es war eine Seele, die Jasmin immer und immer wieder zu Papier gebracht hatte. Ständig wurde sie dazu aufgefordert, diese Bilder zu malen, wobei ihre Hand von einer großen Kraft geleitet wurde. Eine Kraft, die er im Raum spürte, seit sie die Bilder wieder an sich genommen hatte. Deswegen war das Pferd auch immer gleich, wich nie ab. Und Jasmin liebte dieses Pferd. Tief in ihrem Unterbewusstsein kannte sie es, liebte es abgöttisch, aber noch war die Zeit nicht gekommen. Noch warteten die großen Mächte darauf, ihr zu sagen, was die Zeichnungen zu bedeuten hatten. Aber sie würde kommen. Vielleicht schon bald.
„Deine Wunden werden heilen“, meinte der alte Mann leise und lenkte dabei ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Die Neuen wie auch die Alten, die Äußeren, wie auch die Inneren. Spuren werden dort und da bleiben. Nur während die äußeren Spuren irgendwann verblassen, können die Inneren hartnäckig bleiben … wenn du es zulässt. Es gibt viele Möglichkeiten sich mitzuteilen. Die Sprache ist nur eine davon. Viele Menschen kennen nur diese eine Form und sehen sich nicht imstande, eine andere als diese zu verstehen. Wir gehören zu den Menschen, die vielleicht ein wenig mehr hören, sehen und begreifen. Ich glaube dir, dass du den Tag fürchtest, an dem du ins Flugzeug steigen musst und deine Eltern wiedersehen wirst. Der Gedanke, alles zurücklassen zu müssen, was man lieb gewonnen hat, nagt an dir, wie das Eichhörnchen an seiner Nuss …“ Jasmin stieg zuerst die Röte ins Gesicht, bevor diese von Leichenblässe abgelöst wurde. „Deinen Weg bestimmst du selbst. Es gehört zu den Pflichten anderer, auch zuhören zu können.“ Der alte Mann reichte Kino eine kleine Flasche. „Lass ihre Füße noch etwas im Wasser. Trockne sie ab und reibe sie dann damit ein. Morgen wird es keine Schwellung mehr geben. Gute Nacht.“
Der Mann stand auf, nickte ihr noch kurz zu, schwebte wie ein Geist durch den Wohnraum und verschwand. Jasmin sah ihm mit einem seltsamen Gefühl im Magen hinterher. Woher … verdammt, woher konnte er wissen, was …
„Manchmal ist er unheimlich, nicht?“ Kino blickte in Jasmins Gesicht und konnte die Überraschung und das Unverständnis darin erkennen. „Ich habe aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen. Man hat das Gefühl, er gräbt im Innersten des eigenen Ichs herum und ist merkwürdig erstaunt, wenn er auf einmal Dinge weiß, die er eigentlich gar nicht wissen kann. Mach dir nichts draus“, er nahm Jasmin bei den Schultern, zog sie zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, „mir geht es oft genauso.“
Jasmin wandte ihm sein Gesicht zu. Sie verstand noch immer nicht, wieso … und übersah es komplett. Plötzlich fühlte sie Kinos Lippen auf ihrem Mund, spürte seine Hand an ihrem Hals, die Finger zwischen den Haaren und bemerkte, wie sich eine Gänsehaut schlagartig auf ihrem Körper ausbreitete. Und noch bevor sie sich von der Überraschung und dem prickelnden Gefühl erholt hatte, war es auch schon wieder vorbei. Kino drehte sich etwas zur Seite, während sie mit ihrer Hand nach ihren Lippen griff, etwas beschämt den Kopf senkte, aber den jungen Burschen neben sich dann doch schief ansah. Vorsichtig suchte er ihren Blick wieder, und als er ihre leuchtenden Augen sah, in denen helle Sterne funkelten, glitt ein Lächeln über sein Antlitz. Jasmin erwiderte das Lächeln zögernd, aber doch, was Kino schließlich dazu veranlasste, sie noch dichter an sich heranzuziehen und ihr zärtlich übers Haar zu streichen.
„Ich mag dich, Jasmin. Sehr gern sogar.“ Dabei griff er wieder nach ihrer Hand und diesmal verhakten sie die Finger deutlich ineinander.
Jasmin ließ den dichten Körperkontakt nicht nur zu, sondern kuschelte sich eng an Kino, der die Geste bemerkte und sie fest in seine Arme nahm.
„Ich mag dich auch, Kino“, flüsterte sie dezent, und
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