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Whisper (German Edition)

Whisper (German Edition)

Titel: Whisper (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandy Kien
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gefallen und versteckten das, was sie gewohnheitsgemäß verdeckte.
    Aber Kinos Großvater hatte gar nicht vor, ihr ins Gesicht zu starren und sich Gedanken über ihre Entstellung zu machen. Er schnappte sich ohne Vorwarnung ein Bein und streifte den Socken vom Fuß, noch ehe Jasmin in der Lage war, das zu verhindern. Überrascht sah sie auf und das war der Moment, in dem der Großvater ihren Blick einfing und ihr sanft zulächelte.
    „Wie viele Schritte waren wohl notwendig, um diese Füße so zu ramponieren? Hast du sie gezählt?“
    Jasmin sah ihn zuerst groß an, schüttelte aber dann den Kopf. Zählen …! Wer zählte schon Schritte.
    „Deinem Kitz geht es sehr gut“, fuhr der alte Mann fort, wobei sich seine bereits ergrauten Haare sanft über seine Schultern bewegten, während er mit den Fingern zart über ihren Fuß strich. „Die Ziege ist ihm eine gute Mama. Es wird durchkommen und bald ein stolzer Wapiti sein.“ Sanft legte er den Fuß auf seinem Oberschenkel ab und holte sich den anderen, strich ebenfalls die Socke ab und befühlte mit den Fingern die Verwundungen. „Du solltest daran denken, es verheilen zu lassen, nicht, wann du es schaffst, wieder durch den Wald zu laufen.“
    Jasmin schrak zusammen. Wie konnte der alte Mann wissen, an was sie gerade gedacht hatte? Konnte er Gedanken lesen? Quatsch, sagte sie im selben Augenblick zu sich selbst. Niemand konnte Gedanken lesen, aber durch Beobachtung richtig vermuten. Sie wagte erneut einen Blick. Der Mann lächelte. Verdammt, er wusste, dass sie sich wunderte. Leicht begann er die gesunden Stellen an ihrem Fuß zu reiben und zu massieren.
    „Dein Körper besitzt große Selbstheilungskräfte, aber man muss diese ihre Arbeit auch tun lassen. Kino, mach bitte warmes Wasser. Wir werden einen Kräutersud aufgießen und die Füße darin baden.“
    Kino stand unbeteiligt daneben. Er wusste, dass sein Großvater Jasmin völlig übertölpelt hatte. Das war seine Art. Und er hatte sich sofort Zugriff zu ihr verschafft. Manchmal glaubte auch er bei ihm an die Kunst des Gedankenlesens. Er traf manche Bemerkung so sehr treffend, dass man versucht war, es durchaus zu glauben. Aber alles beruhte nur auf eine bemerkenswert scharfe Beobachtungsgabe. Dadurch konnte er in andere Personen vordringen. Die meisten bemerkten es nicht, wodurch ihm Dinge klar wurden, die er eigentlich nicht wissen konnte. War jemand sensibel genug, war er in der Lage, das Vorhaben seines Großvaters zu erraten und zu blockieren. In der Regel suchte er dann andere Wege, um an diesen Menschen heranzukommen, sofern er gewillt war, mit ihm zu tun haben zu wollen. War dem nicht der Fall, konnte der alte Mann auch ein sehr unbequemer Gesellschafter sein. Sein Großvater mochte Jasmin, seit Kino von ihr erzählt hatte. Und die Tatsache, dass sie den gesamten Tag neben dem Pferd hergelaufen war, und sich nicht gescheut hatte, dem Kitz zu helfen, hatte Bewunderung ausgelöst.
    Flink ging Kino in die Küche und setzte einen Topf Wasser auf den brennenden Ofen, der den Raum mit einer angenehmen Wärme füllte. Wenn es auch tagsüber noch angenehm warm war, so kühlte es nachts doch schon deutlich ab. Ein Zeichen, dass Herbst und Winter bald Einzug halten würden. Dann schlich er schnell zum Auto hinaus und holte Jasmins Tasche.
    „Sie wird ein paar Tage bei dir bleiben“, erklärte Kino seinem Großvater, als er die Tasche im Wohnraum abstellte. „Wir holen die Rinder und Susanna fährt morgen einkaufen und wollte sie nicht allein zurücklassen. Deshalb hat Dad vorgeschlagen, sie herzubringen.“
    Sein Großvater nickte nur und Kino hatte einmal mehr den Eindruck, dass er das alles schon wusste.
    „Und du?“, fragte er seinen Enkel, wobei er Jasmins Füße sinken ließ und sich in die Küche begab, die genau wie bei den Kinsky, nur durch eine halbe Mauer vom Wohnraum getrennt war. So hatte der in der Küche Arbeitende immer eine genau Übersicht über jene, die sich im Wohnraum aufhielten. Überhaupt hatte man in diesem Haus den Eindruck, dass alles sehr offen war. Vorraum, Wohnraum und Küche waren nur ansatzweise voneinander getrennt und gehörten doch irgendwie zusammen.
    „Ich bleibe heute Nacht hier und werde morgen ganz früh losreiten. Dann erwische ich die Truppe noch, bevor wir bei den Wasserfällen sind.“
    Sein Großvater nickte abermals, nahm eine große Plastikschüssel und ließ irgendwelche Kräuter auf den Boden rieseln.
    „Und wo werdet ihr schlafen?“
    Kino horchte auf.

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