Whisper (German Edition)
Sein Großvater fragte nicht, wo wird Jasmin schlafen, sondern wo werdet ihr schlafen? Ja klar, selbst sein Vater hatte bemerkt, was er für Jasmin empfand, wieso sollte es an seinem Großvater, der ein noch besseres Gespür für solche Dinge hatte, vorbeigegangen sein?
„Wir …“ Kino stockte kurz. Er konnte doch nicht einfach zusammen mit Jasmin in einem Zimmer, geschweige denn in einem Bett schlafen. Hallo, wie sah denn das aus?
„Das … das wird sich finden“, wich er aus und erntete doch tatsächlich ein schelmisches Grinsen des alten Mannes.
Es dauerte gar nicht lange und der alte Indianer schüttete warmes Wasser über die Kräuter in der Plastikschüssel und trug sie zu Jasmin.
„Es wird etwas brennen“, warnte er sie, „aber dann wirken die Kräuter heilend. Wenn Kino wieder da ist, solltest du wieder normal laufen können. Aber bitte benutz in Zukunft ein Pferd, um durch unsere Wildnis zu wandern.“
Vorsichtig steckte er die Füße in das warme Wasser und behielt recht. Es brannte. Aber nur kurz und ging dann in ein wohliges Kribbeln über. Kino hatte sich neben Jasmin gesetzt und bemerkte die Zeichenrolle, die sie neben sich gelegt hatte.
„Whisper?“, fragte er und deutete auf die Rolle. Jasmin schüttelte den Kopf und nahm die Rolle an sich. Sie ging behutsam damit um, fast andächtig, so, als ob die Zeichnungen jeden Moment zerbröckeln könnten.
„Darf ich sie trotzdem sehen?“
Jasmin zögerte sichtlich. Sanft strich sie über das Papier, als ob es ein weiches Fell hätte, holte die Rolle erst dichter zu sich, umschloss sie mit der Hand. Doch dann ließ sie sie los, schob sie Richtung Kino und schenkte ihm einen sanften Blick. Kino verstand, dass ihr die Zeichnungen wichtig waren, weswegen er sie mit derselben Behutsamkeit an sich nahm, wie sie damit umzugehen pflegte. Vorsichtig öffnete er das Band, welches sie zusammenhielt, und rollte sie vorsichtig auseinander. Das erste Bild zeigte ein Pferd auf weißem Hintergrund. Es stand da, die vier Beine etwas versetzt, sodass man alle vier sehen konnte. Der Kopf, voll Adel, Hals und Rücken schön gewölbt, eine kraftvolle Kruppe und einen dichten Schweif, den das Pferd etwas angehoben hatte. Der Blick des Tieres war ungewöhnlich echt. Die Blesse reichte vom Wirbel über den Nasenrücken und verteilte sich auf der rechten Nüster. Ein Palomino. Die Mähne und der Schweif waren weiß, die Beine, vorne zweimal weiß gefesselt, hinten zweimal weiß gestiefelt. Jasmin malte authentisch. Sie pinselte nicht nur irgendwelche Pferdekonturen, sondern zauberte ein lebendes Bild. Das Pferd starrte ihn an und er hätte schwören können, dass es ein echter Blick war. Es fehlten nur noch die Bewegungen auf dem Papier … hätte das Pferd auch nur einen Schritt getan, Kino hätte es auf der Stelle geglaubt.
Auch das nächste Bild zeigte dasselbe Pferd. Es trabte, den Hals leicht gewölbt, die Mähne fliegend. Und auch diesmal hatte er das Gefühl, das Tier würde gerade in Wirklichkeit über eine Wiese schweben.
Auf dem dritten Bild war dasselbe Pferd galoppierend zu sehen. Kino erschrak, als er in seinem Kopf den Dreischlag des Galopps und ein befreiendes Schnauben hörte. Kurzfristig konnte er Pferdeschweiß riechen und war geneigt zu glauben, ein echtes, reales Pferd vor sich zu sehen, welches gerade über eine Fläche in der Nähe seiner Ranch dahinglitt.
Auch die anderen Zeichnungen zeigten dasselbe Pferd, jedes Mal in einer anderen Stellung oder Bewegung. Aber immer das Gleiche. Vorne zweimal weiß gefesselt, hinten zweimal weiß gestiefelt, mit einer Blesse, die bei den Wirbeln zwischen den Augen begann, über den Nasenrücken verlief, und sich über der rechten Nüster verteilte. Dabei konnte er nie eine Abweichung feststellen. Nicht einmal war das Pferd dicker oder dünner, kleiner oder größer, und auch die weißen Abzeichen blieben immer gleich. Keines war anders abgegrenzt oder vielleicht ungenau. Konnte man ein und dasselbe Pferd so genau zeichnen? Und war es möglich, es so lebendig darzustellen? Es war möglich, Jasmin bewies es ihm gerade.
Das letzte Bild schockierte ihn leicht. Hier hatte sich das Pferd verändert. Es war noch immer dasselbe Pferd, dieselben weißen Stellen, derselbe Körper, aber in seinem Gesicht befanden sich drei dicke schwarze Streifen. Der Blick des Pferdes war anders, zeigte Angst. Erstaunt sah Kino auf Jasmin. Diese bemerkte seinen Blick und griff nach den Zeichnungen. Kino ließ sie sich wegnehmen
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