Whisper (German Edition)
heraus, das er auf der Oberfläche ablegte, um es auskühlen zu lassen.
„Das Brot macht Susanna“, erklärte der Mann plötzlich, ohne sich umgedreht zu haben. Er schien zu wissen, dass sie da war. „Sie backt es, friert es ein und wir bekommen unseren Teil davon ab. Kinos Großmutter ist schon lange tot und vor zwei Jahren starb auch seine Mutter. Sie war schwer krank. Seitdem leben auf der Singing Bird Ranch nur noch Kino, sein Vater und ich. Die Kinskys und wir arbeiten eng zusammen, helfen einander, wo wir können, da wir sehr gut befreundet sind. Wenn wir schlachten, profitieren auch die Kinskys davon. Wir teilen die Rinderherde, und auch die Pferde werden geteilt, je nachdem, wo sie gerade gebraucht werden. Deswegen kann ich eigentlich nie sagen, ob das Pferd, welches gerade in unserem Stall steht, den Kinskys oder uns gehört.“
Jasmin war an die Mauer, die Wohnzimmer und Küche trennte, herangetreten und beobachtete den alten Mann, wie er ein weiteres heißes Brot aus dem Ofen holte und sich die Finger schüttelte.
„Und ihr habt euch noch nie gestritten?“
Die Frage war so zaghaft gestellt, dass der alte Mann sie beinahe überhört hätte. Und bei Jasmin war es gut, nichts zu überhören.
„Streit gibt es bei uns nicht“, erklärte er und schloss den Ofen. „Die Singing Bird Ranch und die Six Soul Ranch liegen weit abseits. Natürlich kommt man auch allein durch, aber wenn man zusammenhält und gemeinsam daran arbeitet, ist es um einiges leichter. Wir sind alle schwer arbeitende Menschen. Kino, sein Vater und ich wollen nur überleben. Das Leben kostet Geld. Das ist bei euch so, bei uns ist das nicht viel anders. Aber wir brauchen keine Reichtümer. Es reicht, das zu haben, was man zum Überleben braucht. Das Teuerste an unserem Hof ist wohl der Pick Up. Ein taugliches Fahrzeug, mit dem man sich Vorräte holen kann, der in der Lage ist, in der Wildnis durchzukommen, und der auch im Winter hilft, die Schneemassen zu bewältigen. Wenn auch der nicht mehr raus kann, helfen meist nur noch die Pferde oder der Motorschlitten. Die Kinskys haben eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, indem sie Menschen wie euch versuchen zu helfen.“
Der Mann trug das Brot, etwas Butter und Marmelade auf die Trennmauer, die man mit einer schönen Holzplatte versehen hatte und deutete auf die Barhocker. Dann holte er noch eine Kanne Milch und stellte einen Becher Kakao dazu.
„Auch die Marmelade ist von Susanna. Sie kocht im Herbst immer ein. Die Butter hat Jaro gemacht …“
„Mir kann niemand helfen!“
Der Mann hielt inne. Er starrte nur kurz auf das Mädchen, erreichte ihr Antlitz und wandte sich wieder ab. Stumm schnitt er einige Scheiben vom Brotlaib herunter und überreichte ihr zwei davon. Dann goss er ihr etwas Milch in den Becher.
„Wieso glaubst du das“, fragte er nach einiger Zeit, als sie schon von ihrem Brot abgebissen hatte.
Jasmin ließ sich Zeit. Warum unterhielt sie sich überhaupt mit dem Mann? Gespräche förderten nur Fragen zutage. Fragen wie diese. Fragen, die sie eigentlich nicht beantworten wollte, denn mit etwas Hirn konnte man die Antworten sehen. Aber Kinos Großvater war nicht irgendwer, er hatte etwas, was sie berührte und sie sicherer werden ließ. Er starrte nicht, er zwang sie nicht. Wenn sie stumm blieb, würde er es akzeptieren, weder an Psychose oder sonstigen Quatsch denken, sondern sie einfach hinnehmen.
Jasmin griff nach einem Buch, das auf der Mauer lag. Nicht dick, vielleicht 250 Seiten, eben ein normales Buch. Sie las noch nicht mal den Titel, sondern legte das Buch vor sich hin und sah den Indianer an. Dann schlug sie das Buch auf, irgendwo in der Mitte.
„Das war mal ich, irgendwann, vor langer Zeit“, erklärte sie ruhig, „als es für mich noch eine Familie gab. Ein offenes Buch, voller Wörter und Sätze, die gesprochen werden wollten. Die Zeiten waren manchmal hart, manchmal auch schön. Das …“, sie nahm eine kleine Figur, die unweit vom Buch entfernt gestanden hatte und stellte sie direkt vor sich, „war meine Mum und das“, sie nahm eine weitere Figur, „war meine Freundin. Beide hielten sie zu mir. Dann starb das“, sie nahm die Figur ihrer Mutter fort und stellte sie wieder zurück, „und ich hatte nur noch das.“ Sie deutete auf die Figur ihrer Freundin, blickte sich um und nahm das Messer, welches der Indianer neben das Brot abgelegt hatte. „Das hier“, sie nahm das Messer, „hat lange gearbeitet und viele wunde Punkte
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