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Whisper (German Edition)

Whisper (German Edition)

Titel: Whisper (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandy Kien
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Schweif, vorne zweimal weiß gefesselt, hinten zweimal weiß gestiefelt, mit einer Blesse, die am Wirbelansatz begann über den Nasenrücken verlief und über die rechte Nüster schwamm. Das, was Jasmin über Monate hinweg gezeichnet hatte, stand dort auf der Wiese und erwartete sie. Sie musste sie nur erkennen. Und dazu brauchte es nicht viel. Es sollte nur ein Blick nötig sein. Nur ein Blick.
     
    Jasmin achtete nicht darauf, was ihre Füße meldeten, als sie die Stufen von der Veranda hinuntersprang und ums Haus lief. Der Schotter knirschte unter ihren Füßen, doch als sie die Wiese betrat, wurde der Schritt weich und gedämpft. War Jasmin zuerst hastig und unvorsichtig unterwegs, so wurde sie langsamer, als sie ihren Weg durch die Bäume suchen musste. Sie nutzte sie als Deckung, um sich dem Pferd nähern zu können, ohne entdeckt zu werden, denn sie hatte nicht vor, sich der Stute zu zeigen. Die Angst, sie könnte davonlaufen, war furchtbar groß. Wenn sie wirklich Pech hatte, würde die Stute sie sowieso wittern und die Flucht ergreifen. Aber mit ein wenig Glück bemerkte sie nichts und Jasmin bekam die Möglichkeit sie zu beobachten, ihr beim Fressen zusehen … ja, vielleicht auch beim Pinkeln … Und wenn nicht, dann wollte sie einfach die Anwesenheit des Tieres genießen.
    Das Mädchen huschte an den Bäumen vorbei und als sie das helle Wesen durch die Äste hindurch sehen konnte, schlich sie nur noch Schritt für Schritt weiter. Das Tier hob immer wieder den Kopf, witterte, prüfte, ließ sich aber nicht davon abbringen, weiter an dem saftigen Grün zu zupfen. Ab und an tat sie einen Schritt, hin und wieder verjagte sie eine Fliege und ließ ihren Schweif zischend hin und her schwingen, um dann wieder ruhig an dem Grün zu kauen. Jasmin hatte sich dicht herangewagt. Die Bäume und Büsche als Deckung nutzend, war sie in die Hocke gegangen und tat nun geduckt einen Schritt nach dem anderen. Das Pferd stand vollends in der Sonne. Sie besaß einen schönen Hals, der in einen geschwungenen Rücken überging. Die Konturen waren sanft, weder eckig noch knochig. Die Wirbelsäule lief in eine runde Kruppe über, die einem den Eindruck gab, als würde das Pferd wirklich sein gesamtes Gewicht auf den Hinterbeinen tragen. Die Schenkel waren ausgeprägt und kraftvoll, die Winkelung der Beine stark geformt. Die Bauchlinie war leicht hochgezogen und eine sanfte Linie führte zur Brust, endete in den Muskeln vorne. Ihre Vorderbeine waren schlank und sehnig. Jasmin kannte jede Kontur, jeden Strich, jeden Muskel, jedes Haar, jede Wölbung. Nichts war ihr an diesem Pferd unbekannt, sondern so vertraut, als hätte sie jeden Tag Stunden mit ihr zu tun. Ihr Blick glitt abermals über die Beine, blieb an jener Stelle hängen, wo das Gold des Felles in das Weiß der Abzeichen überging. Auch hier kannte Jasmin die Umrisse, wusste, wie sie den Farbstift führen musste, um die zackigen Linien zu malen. Ein vorsichtiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. Diese Stute war vorne zweimal weiß gefesselt und hinten zweimal weiß gestiefelt. Jasmin erinnerte sich an die Momente, in denen sie aus ihrem Gedächtnis heraus das Pferd gezeichnet hatte. Trabend, galoppierend, steigend, grasend. Es gab fast keine Position, die sie nicht zu Papier gebracht hatte. Alle Bilder entstanden in ihren Träumen, in denen ihr das Pferd erschien und nicht mehr wegzudenken war, und dann ein Leben auf dem Papier fand. Jetzt stand dieses Pferd vor ihr. Keine Halluzination, keine Illusion, kein Traum. Sie war echt. Sie konnte ihren pferdespezifischen Geruch wahrnehmen, hörte ihr Ausschnauben, das Auftreten des Hufes, wenn sie nach einer Fliege schlug. Konnten Träume wahr werden? Oder befand sie sich in einem Traum und würde jeden Moment erwachen? Whisper war ihr erschienen, im Traum. Sie hatte sie gehört, gefühlt, aber trotzdem hatte sie gewusst, dass es ein Traum war. Diesmal war alles echt. Sie wusste, dass es echt war, dass sie sich in keiner anderen Welt befand. In welcher Welt auch. Sie kannte dieses Pferd nicht, hatte es niemals zuvor gesehen. Es hatte in ihrem Geist existiert, in ihrer Fantasie, und schließlich auf ihren Zeichnungen.
    Jasmin setzte sich gerade auf dem Waldboden etwas zurecht, als ein Zweig unter ihr knackte. Das Mädchen hielt den Atem an, sah hoch. Auch die Stute blickte auf, war schnell einige Schritte zurückgewichen.
    „Nein nicht“, dachte Jasmin bei sich, „geh nicht fort. Bleib noch ein bisschen.“
    Die Stute

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