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Whisper (German Edition)

Whisper (German Edition)

Titel: Whisper (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandy Kien
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hinterlassen.“ Mit einigen schnellen Bewegungen stach sie immer wieder in die Seiten des Buches, sodass es Löcher hinterließ. „Die Sätze begannen zu verebben, die Wörter sich zu verstecken, und das offene Buch blieb immer öfter bei der Freundin, um offen bleiben zu können. Es schloss sich nicht, aber dann kam das!“ Sie nahm das Messer, setzte es an der Buchseite an und zog es darüber. Die Klinge hinterließ einen Schnitt. Jasmin setzte noch ein zweites Mal an, zog das Messer waagerecht über die Seite, dann noch mal von einer Ecke zur anderen, immer so, dass die Seite nicht vollkommen zerschnitten war, sondern irgendwo noch hielt. Dann legte sie das Messer beiseite. „Und während man versuchte das zu heilen“, sie befeuchtete die Schnitte mit den Fingern, drückte sie sorgfältig aufeinander, sodass sie kurzfristig aufeinander klebten, „passierte das.“ Wieder nahm sie das Messer, dann die Figur ihrer Freundin, setzte das Messer an und schnitt der Figur den Kopf ab. Dann legte sie die kaputte Figur auf die Seite und schloss das Buch. „Wie will man etwas wiederherstellen, was kaputt ist? Man kann weder die Figur heilen noch das Buch in den ursprünglichen Zustand zurücksetzen. Das wird für immer so bleiben. Und jeder der kommt und das Buch sieht, wird fragen, warum es so aussieht, was mit ihm passiert ist, was erst aufhört, wenn man das Buch verbrennt. Wenn es das Buch nicht mehr gibt. Man kann nicht sagen, es wird vergehen. Es vergeht nicht. Man versucht das Buch trotzdem zu lesen, es gelingt fallweise, doch die zerschnittenen Seiten können sich nicht mehr mitteilen. Es wird immer ein Stück der Geschichte fehlen, und das Buch kann diese Geschichte nicht mehr vollständig wiedergeben. Und wenn man diesem Buch …“, sie stockte kurz, schlug es abermals auf, um die Figur zu entfernen, „die Seele nimmt, dann wird dieses Buch nicht mehr das sein, was es einmal war.“
    Ruhig legte sie die Figur beiseite, schlug das Buch zu und schob es zur Seite. Der Indianer nippte an dem Kakao, den er sich gemacht hatte, verhielt für geraume Zeit. Es war, als würde er kurz in sich gehen und das Gespräch nochmal Revue passieren lassen. Genau hatte er sie beobachtet, ihren Worten gelauscht, wo er an eine so tiefe Erklärung nie geglaubt hatte, und war sich über eines sehr schnell bewusst geworden. Jasmin hatte ihre Situation sensationell beschrieben, klar verdeutlicht und ließ erkennen, dass sie durchaus Bescheid wusste. Sie war bei Gott nicht dumm, und egal was man ihr versucht hatte einzureden, sie wusste genau, wie es um sie bestellt war, sie wusste um die Reaktion der Menschen, wusste, wie man auf sie reagierte, wusste, wie man auch in Zukunft vermutlich mit ihr umgehen würde und welche Chancen sie auf diesem Planeten hatte. Man konnte es schön reden, man konnte versuchen ihr einzureden, dass sie lernen würde, damit umzugehen, und dass sie dann kein Problem mehr hätte, ein normales Leben zu führen, und, und, und. Aber es war nicht sie, die sich das Falsche einredete. Es waren jene, die ihre Verzweiflung, ihre Wut, ihre Angst und ihren Zorn zwar sahen, ihr aber dann fälschlicher Weise eine Zukunftsvision vorbeteten, die gar nicht stimmen konnte. Der alte Mann empfand tiefe Ehrfurcht vor ihr, vor ihrer Darstellung und verstand auch so langsam, warum sie sich in ihrer Schweigsamkeit vergraben hatte. Das Buch machte es deutlich. Der Geschichte wird immer ein Stück fehlen, ihre Worte … die Wahrheit? Die zerschnittenen Seiten konnten sich nicht mehr mitteilen. Der Indianer hatte geglaubt, schon viel auf dieser Welt gesehen und erlebt zu haben. Ihm war es erlaubt, tiefer in eine fremde Seele zu blicken, als jedem anderen. Er hatte eine hohe Beobachtungsgabe, und er wusste sehr schnell Dinge, die er eigentlich nicht wissen durfte. Sie kamen einfach so, Gedanken formulierten sich, wurden zu Worten, zu Sätzen. Jasmin war sechzehn, vielleicht siebzehn Jahre alt. Die Erlebnisse ihrer Vergangenheit hatten sich tief in ihr eingebrannt. Der alte Mann war schlicht überwältigt. Hatte überhaupt irgendjemand in ihrer Welt diesem Wesen jemals richtig zugehört, hatte man sie wirklich beobachtet, ihre Tränen gesehen. Er wagte es zu bezweifeln.
    Alle Sinne gespannt, griff der Indianer nach der Figur, der sie den Kopf abgeschnitten hatte. Es war eine belanglose Figur gewesen, gemacht auch Wachs, ein Geschenk irgendeines Kindes, welches schon lange wieder in Deutschland war. Sanft nahm er ihre Hand, öffnete

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