Whisper Island (01) - Sturmwarnung
sie sich wieder der Straße näherten.
Seth war keine eineinhalb Meter hochgelaufen, als ein städtisches Polizeiauto in die Auffahrt einbog. Das Licht der Scheinwerfer fiel quer über das Wasser. Seth drückte sich schnell in den Schatten des Gebäudes und flüsterte scharf: »Verdammt! Sind die Stadt-Cops auch hinter dir her?«
Das war genau der Albtraum, den Becca vorausgesehen hatte. »Oh mein Gott!«, flüsterte sie.
Aber dann stieß der Polizeiwagen zurück, wendete und fuhr wieder die First Street zurück, von wo er gekommen war. Becca wartete einen Augenblick und gesellte sich dann zu Seth in den Schatten.
Er sagte: »Hier lang«, und führte sie hinter eine Treppe, die sich über ihnen entlang des Gebäudes mit dem Betonfundament erhob.
»Was ist das hier?«, wollte Becca wissen.
»Das Dog House «, erwiderte er.
»Die alte Kneipe?«
»Jep. Es steht schon seit Jahren leer. Niemand will, dass es abgerissen wird, aber keiner weiß, was man damit machen soll.« Er grinste. »Gut, dass ich es weiß, was?«
Sie sah ihm zu, wie er sich einer kleinen, etwa 1,20 Meter hohen Tür aus Sperrholz näherte. Sie war mit einem einfachen Haken verriegelt, an dem ein Vorhängeschloss befestigt war. Seth zog an dem Haken und er löste sich aus dem Holz, das schon vor langer Zeit im Regen morsch geworden war. Er öffnete die Tür nur so weit, dass er ins Haus schlüpfen konnte, und forderte Becca auf: »Komm.«
Im Gasthaus war es stockfinster. Es roch nach Schimmel, Staub und alten Steinen. Es war so kalt wie das Herz einer Hexe, und in dem wenigen Licht, das von draußen hereinleuchtete, konnte Becca Stapel Pappkartons mit durchhängenden Böden ausmachen. Sie hörte auch, wie ganz in der Nähe Ratten hin und her huschten.
Sie wich zurück. »Ich kann hier nicht …«
Seth sagte: »Warte einfach hier. Oben ist es nicht ganz so schlimm. Aber ich kann dich da ohne ein paar Sachen nicht raufbringen.«
»Was für Sachen?«
»Welche, die ich jetzt schnell besorge. Ich hole auch deine Sachen aus dem Motel. Es wird eine Weile dauern. Ein paar Stunden. Aber ich komme zurück.«
»Können wir die Tür offen lassen?«
»Auf keinen Fall. Die Polizei fährt hier Streife. Die Tür muss zu bleiben, aber mach dir keine Sorgen. Du hast ja gesehen, der Haken schließt nicht mehr richtig. Niemand wird dich hier einsperren und sie leuchten auch nur mit der Taschenlampe drauf. Es wird für sie so aussehen, als wäre die Tür abgeschlossen. Solange du dich ruhig verhältst, ist alles in Ordnung. Okay? Keine Sorge, ich komme zurück. Ich muss zu meinem Großvater fahren. Die Sachen sind dort.«
»Was für Sachen?«, fragte sie noch einmal.
Er antwortete geduldig: »Die Sachen, die du hier brauchen wirst. Okay?«
Sie nickte. Und dann war er auch schon weg und zog die Tür fest hinter sich zu. Das Letzte, was sie ihn von der anderen Seite der Tür her sagen hörte, war, dass sie ihm vertrauen könne. In der Dunkelheit und der Kälte und mit den Ratten, die um sie herumhuschten, blieb Becca gar nichts anderes übrig, als ihm zu glauben.
Es kam Becca so vor, als vergingen Tage, während sie im Keller des Dog House auf Seth wartete. Von dem Lichtstreifen rund um die Sperrholztür abgesehen, war es völlig dunkel.
Es war ein merkwürdiges Gefühl. Kein Flüstern drang zu ihr. Das hatte sie bisher nur erlebt, wenn sie über eine Sache so aufgebracht war, dass sie die Gedanken anderer Leute nicht deutlich wahrnehmen konnte – wie es jetzt bei Seth der Fall gewesen war –, oder wenn sie sich auf dem Friedhof oder in Diana Kinsales Gesellschaft befand. Sonst nie.
Als die kleine Tür zum Keller endlich aufging, hielt Becca einen Moment lang den Atem an, da sie dachte, es sei die Polizei. Aber dann wurde ein Seesack durch die Öffnung gequetscht, gefolgt von einem Schlafsack und einem prall gefüllten Kissenüberzug, auf den Seths Schnauben und dann Seth selbst folgte.
»Hu, das war nicht einfach«, sagte er. »Ich dachte, ich wüsste, wo der ganze Kram ist, aber Grandpa hat ein paar Sachen weggeräumt.«
»Seth! Hast du deinem Großvater erzählt, dass …?«, wollte Becca wissen.
»Immer mit der Ruhe. Er war in der Werkstatt beschäftigt. Also schauen wir mal …« Seth kramte in dem Kissenüberzug und fand, was er suchte. Dann zog er die Sperrholztür zu und schaltete eine starke Taschenlampe ein. Er bewegte den Lichtstrahl durch den Keller und das Licht fiel auf Spinnweben und ein paar winzige Rattenaugen. »Oh Mann.
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