Whisper Island (01) - Sturmwarnung
Ziegelsteinsäulen hindurchführte und von Tannen beschattet war. Diana hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, und in ihrem Licht konnte Becca sehen, dass sie auf einem Friedhof waren. Überall standen Grabsteine im Schatten riesiger Bäume.
Der kleine Weg machte eine Biegung, und sie kamen zu einem Teil des Friedhofs, wo weniger Bäume standen. Hier stellte Diana Kinsale ihren Wagen ab. Dann sagte sie zu Becca: »Ich muss nur schnell Charlie einen Besuch abstatten. Du hast doch kein Problem mit Friedhöfen, oder? Manche Leute mögen nämlich keine Friedhöfe.«
Becca hatte überhaupt kein Problem mit Friedhöfen. Seit frühester Kindheit waren ihre Mutter und Großmutter mit ihr dorthin gegangen, nachdem klar geworden war, dass die Fähigkeit, Flüstern zu hören, bei Laurel eine Generation übersprungen hatte und sich bei Becca umso stärker zeigte.
»Hier kann sie zur Ruhe kommen«, hatte ihre Großmutter immer gesagt, wenn sie sie aus dem Wagen hob. »Wenn du an das Paul-Revere-Gedicht denkst, wird sie dich ignorieren, und wenn ich noch meine Gedanken ausblende, wird sie nichts mehr hören.« Dann war Becca losgestapft und zwischen den Gräbern herumspaziert und hatte ausnahmsweise mal überhaupt kein Flüstern gehört.
Deshalb sagte Becca zu Diana: »Ich mag Friedhöfe.«
Diana entgegnete: »Ich auch. Und die Hunde auch. Ich lass sie mal ein bisschen herumlaufen.«
Sie ließ die Ladeklappe des Pick-ups herunter, und die Hunde sprangen sofort vom Wagen und liefen aufgeregt zwischen den Gräbern umher. Diana nahm ein paar eingetopfte Chrysanthemen von der Ladefläche und bat Becca, einen kleinen Metallkoffer mitzunehmen. Dann ging sie zu einem Grab, vor dem eine Steinbank stand und auf dessen schlichtem Grabstein eingemeißelt war: Charlie Kinsale, geliebter Lebensgefährte.
An den Lebensdaten sah Becca, dass er schon sehr lange tot war, aber der Stein sah aus wie neu. Und als Diana die beiden Chrysanthementöpfe vor dem Grabstein abgestellt hatte und ihr Köfferchen öffnete, wusste Becca auch, warum. Diana entnahm ihm alte Tücher und Poliermittel und machte sich an die Arbeit.
Als sie fertig war, platzierte Diana die Chrysanthemen zu beiden Seiten des Steins, ging zum Wasserhahn, um Wasser zu holen, und goss sie dann ausgiebig.
»Ich würde sie lieber einpflanzen, aber dann gehen sie ein«, erklärte sie Becca. »Es hat eine Weile gedauert, bis ich kapiert hab, dass sie hier nicht gedeihen. Komm, wir setzen uns kurz hin.« Sie ging zu der Steinbank, klopfte mit der flachen Hand darauf und rief: »Hunde, herkommen«, und von verschiedenen Ecken des Friedhofs kamen ihre Hunde angerannt.
Sie scharten sich um ihre Füße und schnüffelten an ihren Taschen in Erwartung eines Leckerbissens. Sie holte ein paar Stückchen Trockenfutter hervor und gab sie ihnen. Die Hunde wedelten eifrig mit dem Schwanz.
»Charlie ist schon so lange tot, aber ich vermisse ihn noch immer. Doch ich glaube, das ist normal, wenn jemand stirbt, den man geliebt hat.«
Der Gedanke, jemanden zu vermissen, war für Becca auf einmal wie ein Vogel, der zu nah an ihrem Gesicht vorüberflog. Plötzlich spürte sie die Qual, die damit verbunden war. Auf einmal hatte sie so große Sehnsucht nach ihrer Mutter, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Lange würde sie sie nicht mehr zurückhalten können, und dann müsste sie erklären, warum sie weinte. Da stand sie abrupt auf und lief ein Stück von der Bank weg, nur so weit, wie Dianas Scheinwerfer reichten.
Diana kam hinter ihr her und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich wollte dich nicht traurig machen, tut mir leid.«
Und aus irgendeinem Grund fiel bei dieser Berührung alle Angst und Sorge, die sich in ihr aufgestaut hatte, seit sie auf der Blue Lady Lane zum ersten Mal vergeblich versucht hatte, ihre Mutter anzurufen, von ihr ab.
»Ist schon gut«, sagte sie. »Alles in Ordnung. Ich sollte wieder los.«
»Vorher will ich dir noch etwas zeigen.«
Sie ging mit Becca ein Stück auf dem Kiesweg zurück, an Zedern vorbei und zum äußersten Ende des Friedhofs. Hier stand ein Grabstein, auf dem ein Engel kauerte. An dem Stein war ein Foto angebracht, und Becca konnte es gerade so erkennen, ebenso wie die Schrift auf dem Stein. Dort stand Theresa Grieder , und sie war vierzehn Jahre alt gewesen, als sie starb.
Becca sagte: »Oh«, und neben ihr sagte Diana leise: »Das ist der Grund, warum Debbie so ist, wie sie ist. Sie würde alles tun, um den Tod ihrer Tochter ungeschehen zu
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