Whisper Island (01) - Sturmwarnung
verhalten, doch je näher sie ihm kam, desto lauter wurde es.
Derric lag völlig reglos da, ein Farbenspiel der Kontraste. Der Bettbezug, die Kissen und das Laken waren schneeweiß, ebenso wie der Verband an seinem Kopf. Aber seine Haut hatte die Farbe von Zartbitterschokolade, was nur durch die Farbe seiner Fingernägel unterbrochen wurde, die hellrosa schimmerten, kurz geschnitten waren und glatt wie das Innere einer Muschel.
Er hing an einem Tropf, und die Kanüle war an seinem Arm festgeklebt. Ein Schlauch steckte in seiner Nase, und an seine Brust war ein Monitor angeschlossen, der seinen Herzschlag kontrollierte. Doch er atmete selbstständig.
Seine Lippen waren aufgesprungen, und es sah schmerzhaft aus. Becca wünschte, sie hätte Lippenbalsam dabei. Wahrscheinlich würde er es sowieso nicht spüren, aber auf diese Weise hätte sie wenigstens etwas für ihn tun können. So kam sie sich völlig nutzlos vor. Aber wenigstens konnte sie mit ihm sprechen.
»Hallo«, sagte sie. Und dann: »Ich bin Becca King, die aus der Schule.«
Und da verstand sie plötzlich, was die Frau am Empfang gemeint hatte. Denn was sollte man jemandem sagen, der sich auf der Schwelle zwischen Leben und Tod befand?
Sie überlegte und sah sich im Zimmer um, und erst da fielen ihr die ganzen Blumen, Ballons, Karten und Stofftiere auf. An der Tür hing eine alte College-Jacke und an der Wand eine Karte von Afrika.
Sie ging zu der Karte, auf der Uganda mit einem blauen Textmarker hervorgehoben war. Insgesamt steckten drei kleine Fähnchen auf dem Land. Auf einem stand Derric, das auf Kampala steckte, auf dem zweiten stand Mom und auf dem dritten Dad . Die beiden letzteren steckten in unmittelbarer Nähe zueinander, während Kampala etwas weiter weg war, und Becca schloss daraus, dass dort Derrics leibliche Eltern geboren worden waren.
Dann sah sie sich die Karten an, die überall im Raum verteilt waren. Und sie las die Texte auf den Blumenkärtchen. Sie fragte sich, wie es wohl war, so beliebt zu sein. Sie selbst hatte in San Diego nur wenige Freunde gehabt. Hiermit war das nicht zu vergleichen. Schließlich fiel ihr ein, dass sie ihm gar nichts mitgebracht hatte. Nichts, das ihre Zuneigung ausdrücken würde, sollte er plötzlich aus dem Koma erwachen.
Da wurde ihr klar, dass sie trotz ihrer Gefühle für ihn eigentlich keinen Platz in seinem Leben hatte. Sie war schließlich die Neue an der Schule, während die anderen Schüler, die hier durch Karten, Blumen und Ballons vertreten waren, ihn schon lange kannten. Aber sie wollte auch dazugehören und wünschte, sie hätte irgendetwas dabei …
Sie steckte die Hand in die Jackentasche, um zu sehen, ob sie nicht etwas fand, und wenn es nur ein Kaugummi wäre.
Da berührten ihre Finger ein Stück Papier. Sie holte es heraus und sah, dass es die Telefonnummer war, die Derric ihr an ihrem ersten Schultag gegeben hatte: ein Zettel mit seinem Namen und einer Nummer darauf, sonst nichts. Sie drehte den Zettel um, nahm einen Stift vom Tisch und schrieb auf die Rückseite: »Gib ihn mir zurück, wenn du wieder wach bist.«
Anstatt ihren ganzen Namen darunterzusetzen, unterschrieb sie mit »B«. Dann nahm sie seine Hand und legte den Zettel hinein.
Doch als sich ihre Finger berührten, geschah etwas Merkwürdiges. Die Musik veränderte sich. Sie wurde schneller und war auf einmal höher und klang nach einem ganzen Orchester mit professionellen Musikern. Und neben der Musik hörte Becca nun auch Freude Freude , und da wusste sie, dass es Derrics Flüstern war, in dem sich dieses Wort immer und immer wiederholte.
Sie spürte, wie eine Woge von seiner Hand zu ihrer herüberschwappte. Aber anders als eine Welle ebbte sie nicht wieder ab. Sie blieb da und bewegte sich zwischen ihnen hin und her, und Becca erkannte, dass es eine Welle der Freude war. Reines Glück. Und weil sie das auch spürte, wollte sie Derric gar nicht wieder loslassen. Es war schon lange her, seit sie das letzte Mal solch ein Gefühl des Friedens empfunden hatte.
Sie sah auf sein Gesicht und suchte nach irgendeinem Anzeichen, nach irgendeiner Verbindung zu dem, was sie bei ihm spürte, und schaute dabei vor allem auf seine aufgeplatzten Lippen. Denn sie bewegten sich ganz leicht und schienen zu lächeln. Sie wanderte mit ihrem Blick von den Lippen zu den beiden halbmondförmigen Schlitzen seiner halb geöffneten Augen.
Sie wäre am liebsten dort hineingekrochen. Wie herrlich wäre es, sich nur einen Augenblick lang in
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