Whisper Island (01) - Sturmwarnung
einen Nachhilfelehrer zu bekommen. Schließlich ging er schon seit letztem Januar nicht mehr zur Schule. Dieser Streit hatte keinen Anfang und kein Ende. Sie bombardierten sich nur gegenseitig mit Vorwürfen und sagten sich unverzeihliche Dinge, die zu vergeben viel Nachsicht erfordern würde.
Aber für Nachsicht war keine Zeit, denn während sie noch diskutierten, betrat Derrics Dad zusammen mit Jenn McDaniels das Krankenhaus. Jenn ging zur Empfangsdame, um die Liste zu überprüfen, während der stellvertretende Sheriff zu Hayley und Seth herüberkam. Er begrüßte Hayley und nickte Seth zu, der murmelte, dass es ihm leidtue, dass er seine Strafzettel nicht rechtzeitig bezahlt hatte. Doch das interessierte den Sheriff im Moment wenig, und Hayley hätte ihm das am liebsten gesagt, aber da kam Jenn McDaniels zu ihnen und sagte: »Die blöde Liste stimmt hinten und vorne nicht mehr. Ich muss alles neu machen.« Da spürte sie, dass zwischen Seth, Hayley und Sheriff Mathieson irgendwas in der Luft lag, und wusste instinktiv – sie hatte immer den richtigen Riecher –, dass etwas nicht stimmte. Sie ließ den Blick zwischen Hayley und Seth hin- und herwandern. Sie ahnte, dass sie sich gestritten hatten. Und das könnte Ärger geben, befürchtete Hayley.
Danach machte Seth sich aus dem Staub, und das war Hayley nur recht. Sie hatte keine Lust mehr, mit ihm zu sprechen, denn das war sowieso sinnlos. Stattdessen ging sie mit Sheriff Mathieson in Derrics Zimmer, während Jenn zum Empfang zurückkehrte, ihre kostbare Liste vor neuen Besuchern rettete und herauszufinden versuchte, wie sie durcheinandergeraten war.
In Derrics Zimmer näherte sich der Sheriff fast andächtig dem Bett. Hayley hielt sich aus Rücksicht im Hintergrund. Derrics Vater berührte zärtlich die Stirn seines Sohnes und sagte: »Na komm, kleiner Mann. Es ist Zeit, aufzuwachen.«
Die Bezeichnung »kleiner Mann« kam Hayley irgendwie unpassend vor. Schließlich war Derric nicht nur über 1,80 Meter groß, er überragte seinen Vater auch um einiges. Aber vermutlich hatte Dave Mathieson ihm diesen Kosenamen schon ganz am Anfang gegeben, als er zu ihnen gekommen war.
Der Sheriff beugte sich über ihn und gab Derric einen Kuss auf die Stirn, dann nahm er seine Hand und hielt sie fest. Als er Derrics Finger öffnete, fiel etwas heraus. Hayley stand in der Nähe der Tür, konnte aber sehen, dass es ein Stück Papier war.
Dave Mathieson las laut vor, was auf dem Zettel stand: »Gib ihn mir zurück, wenn du wieder wach bist. B.«
Er verzog den Mund und sagte: »Kinder!«, und legte Derric den Zettel wieder in die Hand. Hayley dachte sofort, dass er von Becca stammen musste. Aber was sollte er ihr geben, fragte sie sich.
Dann kam Jenn McDaniels herein und sagte: »Jemand hat sich für mich ausgegeben, kannst du dir das vorstellen? Kurz nach dir, Hayley. Hast du irgendjemanden gesehen?« Sie tat so, als wäre das ein schlimmes Verbrechen.
Hayley vermutete, dass es Becca gewesen war. Wer sollte es sonst gewesen sein? Aber sie hatte nicht vor, es Jenn McDaniels auf die Nase zu binden. Sie hatte keine Ahnung, warum Becca sich unter falschem Namen hier hereingeschlichen und Derric den seltsamen Zettel in die Hand gedrückt hatte. Doch eins stand fest: Sie würde es früher oder später herausfinden.
Dann sagte der Sheriff: »Eure Mitschüler scheinen ja ganz wild darauf zu sein, ihn zu besuchen. Hoffentlich bleibt das so. Aber … ich würde ganz gerne noch mal mit euch über den Tag im Wald sprechen. Kommt mit. Ich spendiere euch eine Cola.«
»Hat eine von euch ein Handy?«, fragte der Sheriff sie. Er war mit ihnen in die Cafeteria gegangen, wo sie sich statt Cola einen riesigen Brownie teilen durften und jede eine Tüte Milch bekam.
Hayley dachte zuerst, Dave Mathieson müsse telefonieren. Sie wusste, dass Jenn auf keinen Fall ein Handy haben konnte. Ihre Eltern waren so arm, dass sie sich gerade mal Schuhe leisten konnten. Also griff sie in ihre Handtasche.
»Ich habe eins«, sagte sie. »Meine Mom hat mir eins gekauft, weil …« Aber den Grund konnte sie ihm nicht sagen. Weil Hayley jederzeit erreichbar sein musste, für den Fall, dass auf der Farm etwas passierte. Denn davon wusste der Sheriff nichts, und das sollte auch so bleiben.
»Wo ist dein Handy, Hayley?« Der Sheriff klang ein wenig gereizt, und darüber wunderte sie sich. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und sagte: »Mom hat gesagt, sie will mich immer erreichen können.« Und das war
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