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Whisper Island (01) - Sturmwarnung

Whisper Island (01) - Sturmwarnung

Titel: Whisper Island (01) - Sturmwarnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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schade, denn eigentlich war Jenn ziemlich hübsch. Doch das konnte man gerade nicht erkennen, denn die Wut in ihr wurde immer größer, nahm alle ihre Gedanken ein, und Becca fühlte sie auf sich zurollen. Also ging sie aus der Schusslinie und betrat Derrics Zimmer.
    Dort zog Becca sich den Kopfhörer der AUD-Box aus dem Ohr und ging auf Derrics Bett zu. Im Zimmer war es ganz still, und nur der Monitor war zu hören, auf dem die Ärzte ablesen konnten, dass Derrics Herz kräftig schlug. Becca hatte in der Schule gehört, die Untersuchungen hätten ergeben, dass seine Körperfunktionen normal seien und auch sein Gehirn normal arbeite. Er wachte bloß nicht auf und keiner konnte sagen, warum. Es war sogar ein Spezialist aus Seattle gekommen, aber der konnte ihnen auch nichts Neues sagen.
    Sie griff nach seiner Hand mit den langen glatten Fingern, nahm sie in ihre beiden Hände und drückte sie fest. Dann schloss sie die Augen und flüsterte: »Bitte, Derric«, und plötzlich hörte sie Geräusche: das Rascheln von Kleidern, das Lachen von Kindern und eine hohe Stimme, die immer wieder Derrrrrr-ick rief, was fast wie Gesang klang. Danach hörte sie noch mehr Gelächter und die Klänge einer Blaskapelle.
    Aber das war alles, und es half Becca nicht, die Situation besser zu verstehen. Nachdem sie ein paar Minuten an seinem Bett gestanden hatte, ließ Becca ihn schließlich los. Sie setzte sich auf einen Stuhl, den sie so nah wie möglich an sein Bett rückte. Dann holte sie ein Buch aus ihrem Rucksack. Es war das einzige Buch, das sie aus San Diego mitgebracht hatte, und sie hatte es heimlich in ihre Tasche geschmuggelt. Dieses Buch konnte lebensgefährlich für sie sein, denn ihre Großmutter hatte die Widmung »für meine süße Hannah« hineingeschrieben, als sie es ihr vor fünf Jahren geschenkt hatte.
    Becca schlug das Buch auf und fing an, Derric vorzulesen, genau wie die anderen Schüler, wenn sie ihn besuchen kamen. »Mrs Rachel Lyndes Haus stand dort, wo die Hauptstraße von Avonlea durch eine kleine Senke führte.«
    Und bald passierte das, was ihr immer passierte, wenn sie ein gutes Buch las. Sie vertiefte sich völlig in die Geschichte des Mädchens Anne Shirley und seines Lebens auf der Prince Edward Island.
    Becca kam es vor, als hätte sie schon sehr lange gelesen, als sie hörte, wie jemand den Raum betrat.
    Hat der Junge ein Glück, begleitete die Krankenschwester, die geschäftig zum Tropf eilte, um einen neuen Beutel einzulegen. Sie lächelte Becca zu und sagte leise: »Ich hoffe, ihr macht weiter so. Es ist wichtig für ihn, Besuch zu bekommen.«
    Becca streckte sich und legte das Buch auf den Tisch neben dem Bett. Da sah sie, dass etwas Neues neben dem Telefon stand, außer den Blumen und dem albernen Stoffvogel, die schon letztes Mal da gewesen waren. Ein gerahmtes Foto war so aufgestellt, dass Derric es würde sehen können, wenn er die Augen öffnete. Becca nahm das Foto in die Hand, und als die Krankenschwester das Zimmer wieder verließ, sah sie es sich näher an.
    Es war nicht auf Whidbey Island aufgenommen worden. Soweit Becca wusste, gab es hier keine Gemeinde mit afrikanischen Kindern, und schon gar nicht mit afrikanischen Kindern, die in einer Blaskapelle spielten. Aber genau das zeigte das Foto: eine kleine Blaskapelle, deren Musiker alle Kinder waren, und unter ihnen, deutlich zu erkennen, der kleine Derric, wie er – mit einem riesigen Saxofon in den Händen – in die Kamera grinste. Um die Kapelle herum standen weitere Kinder, die lachten und klatschten, aber viel jünger waren als die Musiker. Eines von ihnen hatte seine Arme um Derrics Hüfte geschlungen, und ein anderes hockte auf seiner Schulter. Und auch die anderen Mitglieder der Blaskapelle waren von Kindern umringt.
    Derric musste auf dem Foto etwa sieben Jahre alt sein und er sah so glücklich aus, dass Becca ihre Hand nach ihm ausstreckte, sanft seine Wange berührte und erneut seine Hand umfasste.
    Freude … Freude … Freude. Jetzt begriff Becca endlich, was das bedeutete. Es bezog sich auf die Musik, die er spielte und die Freude, die die Kinder beim Zuhören empfanden. Sie fragte sich, ob ihm jemand solche Musik vorspielte, anstatt ihm vorzulesen. Sie konnte sie deutlich hören, deshalb wusste sie, wie wichtig sie Derric war. Sie hätte es gerne jemandem erzählt, aber es war keiner da, also ließ sie sich von der Musik davontragen, so wie er es auch tat. Sie saß da und hörte zu. In der einen Hand hielt sie das Bild,

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