Whisper Island (01) - Sturmwarnung
auf, dass sie bequem in der Tür stehen konnte, aber nicht weit genug, um ihn hereinzulassen. Sie musterte ihn und sagte: »Hallo, Seth.«
»Hallo. Ich war gerade in der Gegend und wollte Guten Tag sagen.«
»Quatsch«, sagte Brooke. »Hier kommt man nicht einfach so zufällig vorbei.«
»Na gut.« Er wich ihrem Blick aus, fühlte sich ertappt und sagte: »Dann also ›Hallo!‹«, und ergänzte mit einer Geste über die Schulter: »Warum habt ihr dieses Jahr gar keine Fohlen?«
»Mom hat die Stuten nicht decken lassen. Das war ihr zu aufwändig.«
»Warum?« Der Aufwand bestand in den Deckgebühren und den Tierarztkosten, aber sonst … Schließlich brauchten die Cartwrights Geld, und mit der Pferdezucht konnten sie einiges verdienen.
»Ich weiß nicht«, sagte Brooke und zuckte die Achseln.
»Ist sonst noch jemand zu Hause?«
»Nur Cass und ich.«
»Hayley nicht?«
»Sie hat Probe mit der Jazzband.«
»Deine Eltern auch nicht?«
»Die sind in der Stadt.«
»Einkaufen oder was?«
»Keine Ahnung. Mir erzählt ja eh keiner was.« Brooke sah hinter sich ins Haus.
Von dort konnte Seth Fernsehgeräusche hören. Es lief kitschige Musik. Dann lachte Cassie, und er vermutete, dass sie sich einen Zeichentrickfilm ansah, den Brooke mit ihr zusammen gucken sollte.
Seit der Zeit, als er mit Hayley zusammen war, hatte sich Brookes Verhalten ihm gegenüber sehr verändert. Damals war sie immer ganz begeistert, wenn er kam, und wollte ständig im Auto mitgenommen werden. Heute wusste Seth nur eins: Wenn sie nicht so gut erzogen wäre, hätte sie ihm längst die Tür vor der Nase zugeknallt.
Er sagte: »Sag mal, Brooke, stimmt irgendwas nicht?«
Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Was soll denn nicht stimmen?«
»Das Holz ist nicht gestapelt. Die Gemüsebeete sind nicht bepflanzt. Da dachte ich … Ist alles in Ordnung? Ihr habt doch keine Probleme, oder?«
»Wir haben keine Probleme«, sagte sie. »Ich pass bloß auf Cassie auf, und Hayley ist nicht zu Hause, okay?«
»Zu Hayley wollte ich auch gar nicht«, sagte er. »Können wir uns nicht ein wenig unterhalten? Lass mich doch rein.«
»Lieber nicht«, sagte sie. »Ich muss jetzt wieder rein.« Und damit machte sie langsam die Tür zu, die mit einem wehmütigen Klicken schloss.
K APITEL 23
Es dauerte ziemlich lange, mit dem Bus nach Coupeville zu fahren, weil sie umsteigen musste und die Busse unterwegs oft anhielten. Daher hatte Becca genug Zeit, ihre Mathehausaufgaben zu machen, bis sie im Krankenhaus ankam. Aber sie war ungeduldig und wollte so schnell wie möglich zu Derric. Deshalb nervte sie die lange Fahrt. Doch immerhin konnte man auf der Insel umsonst Bus fahren, und das entschädigte sie für einiges.
Die Sonne schien, aber die Temperaturen waren an diesem Tag beträchtlich gefallen. Als Becca sich dem Krankenhauseingang näherte, riss der Wind Laub von den Bäumen, die auf der anderen Seite des Parkplatzes standen. In diesem Teil des Landes kam der Winter sehr früh, und kurz nachdem das letzte Laub gefallen war, musste man schon mit dem ersten Frost rechnen.
Im Krankenhaus drehte Becca ihre AUD-Box lauter, um das unangenehme Flüstern auszublenden, das wie Fledermäuse über ihr an der Decke hing. Am Empfang erfuhr sie, dass die Liste, wo man sich eintragen musste, nicht da war.
»Das Mädchen hat sie mitgenommen«, sagte die Frau am Empfang, was bedeutete, dass Jenn McDaniels auch hier im Krankenhaus war. Sie wollte ihr nicht über den Weg laufen, aber sie wollte unbedingt zu Derric. Also musste sie das eine in Kauf nehmen, um das andere zu ermöglichen.
Jenn saß draußen vor Derrics Tür. Sie runzelte die Stirn und übertrug die Anmeldeliste auf ein neues Blatt Papier. Sie murmelte ungehalten vor sich hin: »Ihr sollt nur euren Namen auf die Liste schreiben, sonst nichts. Und wenn ihr herkommt, sollt ihr einen Haken hinter eure Namen machen.« Dann sah sie hoch und sah Becca. Da runzelte sie noch mehr die Stirn, und Becca war froh, dass sie dank der AUD-Box Jenns Flüstern nicht hören konnte.
Sie sagte: »Warum kommst du eigentlich immer wieder her? Du kanntest ihn doch gar nicht richtig.«
Becca antwortete nicht. Jenn hatte kanntest gesagt, statt kennst , und einen kurzen, schrecklichen Augenblick lang befürchtete sie das Schlimmste. »Es geht ihm doch gut, oder?«
»Er liegt im Koma, du Schwachkopf. Wie soll es ihm da gut gehen?«
Als Jenn das sagte, waren ihre Gesichtszüge vor Gehässigkeit ganz verzerrt, und das fand Becca
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