Whisper Island (01) - Sturmwarnung
eingenommen und schrieb weiter ihre Anmeldeliste ab. Rhonda sah von Becca zu Jenn und sagte dann: »Kommt ihr mit in die Stadt, ein Eis essen?«
Becca sah zur Tür von Derrics Zimmer und Rhonda sagte mit freundlichem Lächeln: »Ich glaube, sie wird noch eine Weile drinbleiben. Sie will ihm das gesamte Buch der Richter vorlesen. Jenn, du kommst auch mit. Du brauchst mal eine Pause.«
Jenn machte ein Gesicht, als würde sie lieber Strychnin nehmen, als mit Becca King ein Eis essen zu gehen. Becca nahm rechtzeitig den Kopfhörer aus dem Ohr, um zu hören: kann es nicht lassen … , bevor das Geflüster der anderen Leute, die auf dem Flur an ihnen vorbeiliefen, zu viel für sie wurde. Sie setzte den Kopfhörer schnell wieder ein und sagte: »Das wäre toll. Danke, Mrs Mathieson.«
»Rhonda.« Rhonda sah Jenn an. »Komm mit, Jenn.«
Als sie auf dem Parkplatz in Rhondas Auto einstiegen, setzte sich Jenn wie selbstverständlich auf den Vordersitz, und Becca ließ sie gewähren. Es schien Jenn wichtig zu sein, vorne zu sitzen, und sie hatte nichts dagegen, hinten einzusteigen, wo sie nicht so auffallen würde. Der Rücksitz war übersät mit alten Lokalzeitungen und Flugzetteln von wohltätigen Organisationen: eine Suppenküche für Arbeitslose, ein Tierheim, ein Orchester, ein Theater, eine Naturschutzorganisation … Auf der Insel brauchte jeder Geld, und die Wohltätigkeitsvereine schossen wie Pilze aus dem Boden.
Becca war noch nie im Stadtzentrum von Coupeville gewesen. Es befand sich am äußersten westlichen Ende der Penn Bay und bestand – wie in Langley – hauptsächlich aus zwei großen Straßen, hinter denen kleine Häuser und viktorianische Villen auf einem ansteigenden Hügel standen. Die Gebäude waren sehr malerisch und bunt gestrichen. Zwischen ihnen verlief ein Pier, der bis zum Hafen führte und an dessen Ende ein Werftgebäude stand. Auf einer riesigen zweiflügeligen Tür war in weißen Buchstaben C-o-u-p-e-v-i-l-l-e zu lesen.
Rhonda parkte vor einem alten Wirtshaus, das Toby’s hieß und wo eine Fliegengittertür vom Wind hin- und hergeschleudert wurde. »Da vorne, Mädels«, sagte sie und zeigte auf die andere Straßenseite, wo vier Holzstufen zu einer Eisdiele hinaufführten. Drinnen standen drei kleine Tische, die alle frei waren. Eigentlich war es schon zu kalt, um noch Eis essen zu gehen.
»Sucht euch was aus«, sagte Rhonda. »Ich nehme einen Bananensplit.«
Jenn bestellte einen Eisbecher mit Vanilleeis, Schokoladensoße und Erdnüssen, und Becca hätte eigentlich gerne einen Erdbeerbecher gegessen. Aber ihr klang noch immer Laurels Spruch in den Ohren: »In den Mund und direkt auf die Hüften«, also bestellte sie nur ein Mandelgebäck. Da musterte Jenn sie verächtlich, als wolle Becca vor Rhonda die Brave spielen. Rhonda bestellte aber noch eine Kugel Erdbeereis zum Gebäck dazu und sagte, dass sie nicht so ein schlechtes Gewissen hätte, wenn die beiden auch sündigen würden.
Dann aßen sie eine Weile stumm ihr Eis und Becca bemerkte, dass Jenn zum ersten Mal, seit sie sie kennengelernt hatte, zufrieden wirkte. Vermutlich waren Eiscreme, Schokoladensoße und Erdnüsse die einzige Möglichkeit, ihre Wut zu besänftigen, die ihr Flüstern durchzog wie ein tödliches Gift.
Rhonda löffelte ihren Bananensplit und sagte: » Anne auf Green Gables war auch mein Lieblingsbuch, als ich in eurem Alter war, Becca. Und es passt perfekt zu Derrics Situation, denn schließlich wurde er ja auch adoptiert, genau wie Anne.«
»Er hat mir erzählt, dass Sie sein Waisenhaus in Uganda besucht haben«, sagte Becca.
Rhonda erzählte, dass sie einmal mit ihrer Kirchengruppe in einer Mission ausgeholfen hatte, die Straßenkinder aufnahm. In Kampala lebten Tausende von obdachlosen Kindern auf der Straße, weil so viele Erwachsene an Aids starben. »Wir glauben, dass Derrics leiblichen Eltern dasselbe passiert ist, aber genau wissen wir es nicht«, sagte sie. »Er war erst fünf Jahre alt, als er von den Mitarbeitern der Mission aufgegriffen wurde. Er hatte mit acht anderen Kindern hinter einer Bar in der Stadt gelebt, wo sie sich eine kleine Hütte aus Pappe und Blech gebaut hatten. Das älteste von ihnen war zehn und das jüngste noch nicht einmal zwei.«
Langsam schob Becca den Teller mit dem Erdbeereis von sich weg. Jenn aß unbeirrt weiter, so als hätte sie Rhonda Mathieson gar nicht zugehört. Aber vielleicht kannte sie die Geschichte schon und es machte ihr nicht mehr so viel aus. Becca konnte
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