Whisper Island (01) - Sturmwarnung
sich nicht vorstellen, sich jemals an so etwas zu gewöhnen. Er war erst fünf Jahre alt gewesen und hatte alleine auf der Straße gelebt.
Rhonda sagte: »Als ich Derric zum ersten Mal gesehen habe … Diesem Lächeln konnte ich einfach nicht widerstehen. Wir haben ihn adoptiert und es hat alles wunderbar geklappt. Genauso wie Anne Shirley in deinem Buch von Matthew und Marilla adoptiert wurde, Becca.«
»Aber Marilla wollte sie anfangs gar nicht haben.«
Rhonda sagte nichts. Sie dachte wahrscheinlich nach, aber Becca konnte nichts hören, weil sie den Kopfhörer im Ohr hatte. Dann lächelte Rhonda flüchtig und sagte: »Nein. Anfangs nicht, stimmt. Sie wollte Anne zuerst gar nicht haben. Das hatte ich ganz vergessen.«
Rhonda ging zur Theke und wollte noch ein paar Mandelkekse kaufen, »um sie Dave mitzubringen«. Becca sah Jenn zum ersten Mal an, seit Rhonda begonnen hatte, ihre Geschichte zu erzählen. Diese hatte inzwischen ihr Eis aufgegessen und schien innerlich zu kochen. Ihre Augen durchbohrten Becca mit unverhohlener Feindseligkeit.
Becca sah hinunter auf ihren Teller, auf dem das Eis geschmolzen und auch das Gebäck ungegessen liegen geblieben war. Sie fragte sich, ob Jenn wohl gerade dachte, was für eine Geldverschwendung es gewesen war, Becca ein Eis zu spendieren.
»Ich hab keinen Hunger«, versuchte sie, sich zu rechtfertigen. »Willst du meinen Kuchen haben?«
Da flüsterte Jenn empört: »Spinnst du komplett? Als ob ich deine Reste aufessen würde! Du hast sie wohl nicht alle!«
Becca machte gerade ihre Geschichtshausaufgaben, als Debbie bei ihr anklopfte und den Kopf durch die Tür steckte. »Ich muss zu einem Treffen«, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Second Street, wo sie und Becca sich zum ersten Mal gesehen hatten. »Kannst du so lange auf Chloe und Josh aufpassen? Es dauert nur eine Stunde. Ich muss mich dort mit einer Frau treffen …«
Sie meinte damit eine der Frauen bei den Anonymen Alkoholikern, denen sie half. Das wusste Becca, weil sie schon öfter mitgehört hatte, wie Debbie am Telefon mit jemandem sprach, dem sie half, mit dem Trinken aufzuhören. Becca sagte, dass das kein Problem sei. Sie würde sowieso langsam über ihren Hausaufgaben einschlafen.
In Debbies Wohnung hinter der Motelrezeption machte Josh seine Hausaufgaben für Heimat- und Sachkunde, während Chloe versuchte, alle Adjektive aufzuschreiben, die ihr einfielen, um das Bild auf einer Postkarte zu beschreiben, die sie von ihrer Lehrerin bekommen hatte. Für jeden Gegenstand auf der Karte musste sie zwei Adjektive finden, und Chloe fand diese Aufgabe einfach nur blöd.
Becca war ganz ihrer Meinung. »Aber wenn ihr mit den Hausaufgaben fertig seid, machen wir was Schönes«, kündigte sie an.
»Was denn?«
»Einen Malwettbewerb.«
»Und was können wir gewinnen?«, fragte Josh ohne Umschweife.
»Wir gehen zu Sweet Mona’s , und der Gewinner kann aussuchen, was wir essen.«
Mehr brauchte Josh nicht zu hören, und Chloe machte sowieso alles nach, was ihr Bruder tat. Die Kinder erledigten ihre Hausaufgaben in Rekordzeit und wollten mit dem Wettbewerb beginnen, bevor Becca die Gelegenheit hatte, mit ihrer eigenen Aufgabe weiterzukommen. Sie musste den ersten Akt vom Kaufmann von Venedig lesen. Und das war mindestens genauso mühsam wie die Beschäftigung mit Geschichte.
Sie legte das Buch beiseite und sagte: »Na gut. Hier kommt eure Aufgabe: Ihr müsst mich malen, und das beste Bild gewinnt.«
Chloe protestierte, dass sie Becca nicht malen könne. Da würde Josh sofort gewinnen. Aber Becca beruhigte sie und sagte, der Wettbewerb bestehe darin, Becca an ihrem Lieblingsort zu malen. Und wer das erriet und richtig malte, der würde gewinnen. »Es geht nicht um die beste Zeichnung, sondern darum, wer richtig rät«, erklärte sie Chloe.
Das konnte auch Chloe akzeptieren und die Kinder machten sich sofort mit ihren Malsachen an die Arbeit, während Becca weiter versuchte, herauszufinden, worum es im Kaufmann von Venedig eigentlich ging. Aber sie war müde und ihr war warm, und bald fielen ihr die Augen zu.
Sie schreckte aus dem Schlaf hoch, als die Tür zum Büro zufiel. Sie wollte gerade aufspringen, als sie hörte, wie Debbie mit jemandem sprach. Die beiden kamen ins Wohnzimmer, und die andere Person war Tatiana Primavera, die Schulberaterin von der Highschool.
Debbie sagte: »Sieh mal, wen ich auf dem Weg von der Chorprobe aufgegabelt habe.« Und ihre Enkel fragte sie: »Seid ihr mit
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