Whisper
noch umgeben von den Gerüchen, Düften und Farben der Natur war.
Hoch oben auf einem Hang blieb sie stehen.
Noa war ein Stadtkind, aber die Natur, vor allem der Wald hatten schon immer eine starke Wirkung auf sie gehabt – und dieser Sommerwald war schöner als alles, was sie bisher gesehen hatte. Die Bäume glitzerten vom Regen der letzten Nacht, unzählige Tropfen hingen an den Blättern und das Sonnenlicht, das sich in ihnen brach, ließ sie in allen Farben des Regenbogens schillern. Zwei Amseln sangen in den Baumkronen, gut versteckt im dichten Laub, im Unterholz knackte und raschelte es ab und zu, aber dazwischen erschien es Noa so still – wie in einem Märchenwald.
Schneewittchen.
Noa drängte den Gedanken fort und sog die kühle Waldluft ein, atmete sich randvoll mit all diesen Düften nach reifen Beeren und Sommerblumen, nach Pilzen und feuchter Erde, nach Moos und würzigem Harz. Und ihre Augen atmeten das Grün, dieses satte Sommergrün der Bäume ein, das über allem leuchtete wie ein mächtiges Dach.
Dann griff sie nach ihrer Kamera, ging in die Hocke und schoss Bilder, eins nach dem anderen. Von einem schneeweißen –und wie Noa wusste –, hochgiftigen – Knollenblätterpilz, von einer purpurroten Beere und von einer Pflanze am Wegrand. Ihre samtigen Blüten schimmerten so schwarz wie Ebenholz.
Schneewittchen.
Noa lief dichter in den Wald hinein, wo sie weitere Bilder schoss – von einer schillernden Kreuzspinne, die zwischen den tief hängenden Zweigen einer Kastanie ihr Netz gesponnen hatte, von einer auf einem dürren Zweig aufgespießten Packung Marlboro und von dem mannsdicken Baumstumpf einer Eiche, deren Wurzeln sich wie die Pranken eines riesigen Tieres in die Erde gruben, während der obere Teil des Baumes nach hinten gebrochen war, als hätte ein ungeheurer Sturm ihn weggerissen. Die Stellen, an denen das Holz gesplittert war, waren blutrot – angestrichen. Ja, jemand musste sie mit roter Farbe bemalt haben, kunstvoll und sehr genau, sogar in verschiedenen Schattierungen. Nachdenklich ließ Noa die Kamera sinken. Dieser Künstler, Robert, hatte David nicht erzählt, dass er auch manchmal Sachen in der Natur machte? Reichlich abgefahrenes Zeug hatte David seine Kunst genannt, aber als Noa auf den Baumstumpf sah, verstand sie sofort, was der Künstler damit hatte ausdrücken wollen. Bäume waren Lebewesen. Lebewesen, die Schmerz empfinden konnten.
Schneewittchen.
Noa lehnte sich an den Stamm und schloss die Augen. Viele Male hatte das Fotografieren, ihre größte Leidenschaft, ihre Sorgen verdrängt, aber diesmal funktionierte es nicht. Die Gedanken an das, was geschehen war, hatten sich wie Zecken in ihrem Hirn festgebissen. Dabei war das alles so jenseits jeglicher Vernunft, so verrückt, zu verrückt, um wahr zu sein. Es gab keine Geister, die Sache gestern war ein Scherz gewesen, ein schlechter Scherz, den ihnen ihre eigene Einbildung gespielt haben musste.
Ein Mädchen hatte es gegeben, so viel hatte ihnen ja bereits die Mutter von David verraten – aber wahrscheinlich waren es irgendwelche Phantasien, die sich in Noas und Davids Unbewusstem zu dieser schaurigen Geschichte zusammengefügt und das Glas in Bewegung gesetzt hatten.
Ja, so konnte es gewesen sein, so und nicht anders musste es gewesen sein. Noas Atem wurde endlich ruhiger. Ich werde den Namen des Mädchens herausfinden, dachte sie. Und dann werde ich zu David gehen und ihm sagen, dass nicht ich meine Späße mit ihm getrieben habe, sondern dass uns beiden Kats Champagner zu Kopf gestiegen ist. Der Champagner, die stille Nacht im Dorf und dieses ganze alberne Spiel.
Auf dem Rückweg war Noa so leicht zu Mute, dass sie vor sich hin pfiff. Ihre Schritte waren jetzt federnd, sie pflückte ein paar Himbeeren von den Sträuchern und leckte sich den Saft von den Fingern.
Erst als sie das Mühlenhaus erblickte, blieb Noa stehen. Da waren Stimmen, eine tiefe, männliche und eine helle – die von Kat. Ja, da war Kat, ihr rotes Haar leuchtete Noa schon von weitem entgegen. Sie lachte und redete auf einen Mann ein, einen schwarzhaarigen Mann … mit einem kreisrunden Muttermal auf dem linken Wangenknochen.
Noa wich zurück, aber es war zu spät, Kat hatte sie bereits entdeckt. Auch der schwarzhaarige Mann sah jetzt zu ihr herüber. Er runzelte die Stirn und Noa suchte schon nach Worten – kein Zweifel, er hatte sie erkannt. Aber er sagte nichts, nickte ihr nur zu. Dankbar erwiderte Noa seinen stummen Gruß.
»Da
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