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Whisper

Whisper

Titel: Whisper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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bist du ja«, rief ihre Mutter unnatürlich laut. »Ich war grad beim Bauern und habe neue Milch geholt«, Kat gab Noa einen Knuff in die Seite. »Du Knalltüte hast die offene Flasche vor der Küchentüre abgestellt und Pancake damit eine ziemliche Freude gemacht. Unser kleiner Fettklops hat die Flasche umgekippt und anschließend den Flur blitzblank geleckt. Aber dafür«, Kat wedelte mit einem silbernen Schlüssel in ihrer Hand, »hatte ich beim Bauern die Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass wir endlich auf den Speicher können. Der Bücherschrank im Flur war ja schon mal eine kleine Entdeckung, ich hab mir gleich einen Groschenroman rausgegriffen. Käthe und der Bergdoktor.« Kat kicherte. »Wenn mir die Geschichte gefällt, lasse ich sie verfilmen und spiele die Käthe – was meinst du Noa?«
    Noa lächelte gequält, während der Maler keine Miene verzog. Falls Kat mit ihrem blöden Witz herausfinden wollte, ob dieser Mann in ihr die große Schauspielerin erkannt hatte, war sie gescheitert. »Jedenfalls«, fuhr sie im gleichen Atemzug fort, »bin ich jetzt erst mal gespannt, was der Speicher zu bieten hat. Der Bauer sagte, du hättest auch schon danach gefragt. Aber dafür …« Kat legte ihre Hand auf den Arm des Mannes. »… dafür weißt du bestimmt noch nicht, wen du hier vor dir hast, stimmt’s? Das ist Robert. Stell dir vor, er ist der Maler, von dem Gilbert neulich einen Bildband im Fenster stehen hatte. Ich kann’s noch gar nicht glauben. Seine Bilder sind wirklich ganz phantastisch, die würde ich zu gern mal in natura sehen.« Kats Augen funkelten. Kein Zweifel, sie flirtete auf Teufel komm raus mit diesem Mann, dessen Blicke sich, wie es Noa schien, nur mühsam losreißen konnten. Allerdings nicht von Kat, sondern von dem Schlüssel, den sie in der Hand hielt.
    »Das ist übrigens meine Tochter. Noa.«
    »Hallo Noa«, sagte der Mann. Seine Stimme war tief und ein wenig rau, als hätte er sie lange nicht benutzt. Aber Noa fand, dass sie etwas von einer Erzählerstimme hatte, wie die von ihren alten Märchenkassetten. Eine Stimme, die Worte zum Leben erweckte und einen bannte, ganz egal, was sie sagte.
    »Also dann, einen schönen Tag noch.« Der Maler nickte ihnen zu, dann wandte er sich ab.
    »Ihnen auch und … vielleicht bis bald einmal?« Kats Stimme war jetzt leise, beinahe schüchtern. »Ich würde Ihre Bilder wirklich gerne anschauen.«
    Der Maler drehte sich noch einmal um und sah Kat an, lange und ernst, als prüfe er ihr Gesicht für die Vorlage eines Porträts, und zum ersten Mal in ihrem Leben sah Noa ihre Mutter erröten.
    »Das Schweigen der Männer«, sagte Kat auf dem Heimweg und hakte sich bei Noa unter. »Aber der hat was, findest du nicht? Der hat wirklich was. Was für ein verrückter Zufall, dass ausgerechnet der in diesem Dorf lebt. Das muss ich gleich Gil erzählen. Und du? Warst du im Wald? Hast du Fotos gemacht? Ich war in der Stadt, habe eine Riesenladung Lebensmittel gekauft und …«
    Noa hörte gar nicht zu. Ihr war ein Gedanke gekommen, vorhin schon, als Kat das Bücherregal im Flur erwähnt hatte, und dieser Gedanke nistete sich jetzt in ihrem Kopf ein.
    Das Buch von Astrid Lindgren, mit dem grünen Seidenband, dem rot unterstrichenen Satz – und der handschriftlichen, verwischten Widmung auf der ersten Seite. Eine Widmung für wen? Für wen war dieses Buch ein Geschenk gewesen?
    Als sie ins Haus kamen und Kat sich an dem Türschloss des Dachbodens zu schaffen machte, stürzte Noa ins Wohnzimmer.
    Die Widmung auf dem vergilbten Einband war so verwischt, dass es Noa große Mühe kostete, sie zu entziffern. Aber sie schaffte es.
    Sie las.
    Meiner Schwester Eliza
zum zehnten Geburtstag
am 21. August 1967
von deinem großen Bruder Jonathan,
der immer für dich da sein wird.
    »Sesam öffne dich«, kreischte Kat aus dem Flur. »Das Schloss hat geklemmt, aber ich hab’s aufgekriegt! Hat jemand Lust auf eine Dachbodenbesichtigung?«
    Auf der Treppe ertönten Gilberts Schritte, aber Noa saß da, bewegungslos, das Buch in ihren Händen. Sie saß da und dachte an das Datum, das ihnen das Glas buchstabiert hatte.
    Wenn Eliza am 21. August 1967 zehn Jahre alt geworden und am 21. August 1975 gestorben war, dann stimmte es. Dann stimmte alles.
    Eliza war achtzehn gewesen.
    Sie war an ihrem achtzehnten Geburtstag gestorben.

ACHT
    Der Dachboden wird mir gehören. Mir allein. Während mein Vater Robert zu weiteren Arbeiten am Haus überredet, schleiche ich mich hoch. Ich bin

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