Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Whisper

Whisper

Titel: Whisper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
Vom Netzwerk:
habe ich dich auf dem Handy angebettelt nach Hause zu kommen. Aber du musstest ja unbedingt deine Party zu Ende feiern, also hast du Gilbert geschickt. Verflucht noch mal, Kat, seit wann willst du mit mir über meine Gefühle reden?«
    Noa hasste sich für das Selbstmitleid, das mit einer solchen Wucht in ihr ausbrach, und versuchte mit aller Macht die Tränen wegzudrücken, die ihr wie Salzwasser hinter den Augen brannten.
    »Scheiße, ich weiß«, sagte Kat. »Ich weiß, ich habe versagt. Ich bin eine schlechte Mutter. Ich …«
    Noa hörte gar nicht mehr hin. Ich. Ich. Ich. Das war alles, was Kat kannte, und dass sie keine ihrer Affären mit hierher genommen hatte, war im Grunde nur Gilbert zu verdanken.
    Als sie beim Haus ankamen, winkte Gilbert ihnen zu, aber sein Lächeln erstarb, als er ihre Gesichter sah.
    »Oh«, sagte er.
    Kat knallte die Autotür zu und rauschte aus dem Gartentor, ohne die Einkäufe auszupacken.
    Noa schnappte sich ihre Tüte mit den Konzentraten und verschwand in der Dunkelkammer.
    An einen Kartoffelkeller erinnerte der winzige, in Rotlicht getauchte Raum in den Eingeweiden des Hauses jetzt wirklich nicht mehr. Auf dem Tapeziertisch standen die Schalen mit den Entwicklerflüssigkeiten, daneben waren die Lupe und der Leuchtkasten zum Betrachten der Negative. Aus Noas tragbarem CD-Player ertönte die Musik von Barbra Streisand, der amerikanischen Schauspielerin, die Kat nicht leiden konnte. Noa kannte ihre Filme nicht, aber die von klassischen Komponisten vertonten Gedichte, die Barbra Streisand auf dieser CD mit ihrer Stimme zum Schweben brachte, hatte sie im letzten Winter einmal bei Gilbert gehört und sich so in die Musik verliebt, dass Gilbert ihr die CD geschenkt hatte. Am liebsten mochte sie das vertonte Gedicht von Eichendorff. Mondnacht hieß es und noch heute kamen Noa beim Zuhören oft die Tränen, weil eine so tiefe, poetische Kraft darin lag. Es war das letzte Lied auf der CD und plötzlich fiel Noa ein, dass auch darin von Sternen die Rede war. Sie atmete die Traurigkeit weg, die ihr wieder in die Brust stieg, und machte sich an die Arbeit. Der fertig entwickelte Filmstreifen hing schon an der Wäscheleine, sodass Noa den Rotlichtfilter von der Glühbirne abziehen und den Leuchtkasten anknipsen konnte, um einen ersten Blick auf die Negative zu werfen. Schemenhaft erkannte sie Landschaftsaufnahmen und Gesichter, aber ihre eigentliche Aufmerksamkeit wurde von einem Negativ im unteren Teil des Streifens angezogen. Dieses Negativ war dunkel – deutlich dunkler als die anderen.
    Noa hatte nicht nur das Fotografieren, sondern auch das Entwickeln von Fotos durch eine Reihe von Kursen und eine feine Sammlung an Fachliteratur erlernt, sodass ihr geübter Blick sofort erkannte, warum dieses Negativ so dunkel war. An dieser Stelle hatten sich zwei Bilder übereinander geschoben – eine Doppelbelichtung nannte man das. So was kam beim Fotografieren nicht selten vor, vor allem wenn ein Gerät länger nicht benutzt worden war. Wahrscheinlich hatte die Kamera nicht richtig transportiert, als David auf dem Boden das erste Photo von Noa geschossen hatte.
    Aber Genaueres würde Noa erst auf den Kontaktabzügen erkennen, wenn auf dem DIN-A4-großen Bogen die schemenhaften Negative als winzige Positivbilder zu sehen sein würden.
    Der chemische Geruch der Flüssigkeiten, das glatte, leicht schimmernde Fotopapier, diese geheimnisvolle Atmosphäre, die sie in der Dunkelheit des Labors umgab, hatte für Noa schon immer etwas Magisches gehabt. Aber dieser schrittweise Prozess der Verwandlung faszinierte sie am meisten – und als Noa den fertigen Bogen unter die Glühbirne hielt, vibrierte wie immer dieses kribbelnde Glücksgefühl in ihr. Da waren sie, die Kontaktabzüge. Alle 36 Aufnahmen auf einen Blick, kaum größer als Briefmarken, aber schon als Miniaturfotos erkennbar.
    Die ersten Bilder waren tatsächlich Landschaftsaufnahmen, nichts Spektakuläres; der Ausblick auf ein Tal, Bäume, Wiesen, ein Sonnenuntergang.
    Die nächsten Bilder zeigten das Gesicht eines Jungen, etwa im Alter von David. Er hatte kurzes schwarzes Haar, dunkle Augen und – was selbst in dieser Größe deutlich zu erkennen war –ein großes Muttermal über dem linken Wangenknochen.
    »Robert«, hörte Noa sich selbst sagen. Es war wirklich faszinierend, wie wenig sich der Maler über die Jahre verändert hatte. Stumm und ernst sah ihr das Gesicht des jungen Robert von dem winzigen Kontaktabzug entgegen.
    Die letzten

Weitere Kostenlose Bücher