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Whisper

Whisper

Titel: Whisper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Bilder zeigten David. Das helle Haar, die strahlenden Augen. Dieses Lächeln. Noa unterdrückte den Impuls, den ganzen Bogen in tausend Einzelteile zu zerfetzen. Sie konzentrierte sich auf das doppelt belichtete Bild. Es lag genau zwischen den Aufnahmen von Robert und David – und hier auf dem Kontaktabzug war die Doppelbelichtung noch deutlicher zu erkennen. Das Bildchen war jetzt viel heller als die anderen, wodurch sich der schemenhafte Eindruck noch verstärkte.
    »Ich«, flüsterte Noa erschrocken. »Ich müsste doch eigentlich auf diesem Bild zu sehen sein.« Nervös biss sie auf ihrer Unterlippe herum. Ja, gestern hatte David das erste Foto von ihr gemacht. Aber auf welches Bild hatte sich ihr Gesicht durch die Doppelbelichtung geschoben? Noa beugte sich noch dichter über den Abzug. Da war etwas dunkles, ein runder Fleck auf silbrig grauem Untergrund. Der Umriss eines Auges? Das ergab keinen Sinn – es war geradezu absurd, zumindest hier auf dem Kontaktauszug betrachtet.
    Seufzend wischte sich Noa die feuchten Hände an der Jeans ab. Es half nichts, sie würde das Negativ vergrößern müssen, um das Bild genauer erkennen zu können – und als sie den Rotlichtfilter wieder über die Glühbirne stülpte, wünschte sich Noa zum ersten Mal diesen langsamen, so viel Fingerspitzengefühl erfordernden Prozess beschleunigen zu können.
    Als sie endlich das belichtete Fotopapier in die Plastikwanne mit der Entwicklerflüssigkeit legte, waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Mit vorsichtigen Bewegungen schob Noa die Wanne hin und her und verfolgte mit angehaltenem Atem, wie auf dem weißen Papier langsam aus nichts etwas wurde.
    Zuerst kamen die dunklen, dann die helleren Flächen zum Vorschein. Eine Frau mit schwarzem Haar wurde sichtbar, allerdings nicht von vorne, sondern von hinten, und jetzt erkannte Noa, dass der kreisrunde Fleck in der Mitte des Bildes tatsächlich ein Auge war.
    Ihr eigenes Auge.
    Angstvoll aufgerissen, starrte es sie an. Noa erinnerte sich noch genau an den Moment, als David auf den Auslöser gedrückt hatte, an den Schrecken, den sie in diesem Augenblick empfunden hatte.
    Ihr zweites Auge wurde sichtbar, aber noch brannte nur das Rotlicht, und erst nachdem der Entwicklungsprozess beendet war und Noa das Foto aus dem Fixierbad nahm, konnte sie den Rotlichtfilter wieder von der Glühbirne abstreifen und das fertige Bild betrachten. Erst jetzt waren die Konturen des hellen Untergrunds, in dem sich ihr Gesicht verfangen hatte, deutlich sichtbar.
    Noas Gesicht war mitten im Rücken einer jungen Frau. Die Frau trug einen silbergrauen Umhang, einen Kimono, ihr pechschwarzes Haar fiel in schweren Locken auf ihre Schultern und sie hatte die Arme wie im Flug ausgebreitet. Die junge Frau stand vor einem Abgrund, vor ihr klaffte schwarze Leere und an den Dachbalken auf der rechten Seite erkannte Noa, dass die Frau auf dem Dachboden stand – an der Schwelle zur Scheune. Durch die geöffnete Dachluke oben rechts im Bild schien der Mond. Noch während Noa ihn ansah, klickte leise der CD-Player und die Zeilen des letzten Liedes brannten sich tiefer denn je in sie ein.

    Es war, als hätte der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nur träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus.
Flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.
    Noa bemerkte nicht einmal, wie sich die Tür zum Keller öffnete und jemand herunterkam. Erst als sich von hinten zwei Arme um sie legten, kam sie wieder zu sich.
    »Was für ein schönes Lied«, raunte Davids Stimme in ihr Ohr. Noa riss sich aus der Umarmung los und gab David eine schallende Ohrfeige.

VIERZEHN
    Sich einem anderen Menschen anzuvertrauen ist im Grunde wie ein Spiel, bei dem man entweder alles verliert oder alles gewinnt. Der andere ist immer der Gegner und genau so muss man ihn behandeln. Kein Spieler legt seine Karten offen auf den Tisch. Er behält sie in der Hand und wählt aus, welche er zuerst aufdeckt und welche er bis zum Schluss zurückbehält.
    Eliza, 27. Juli 1975
    A uf Davids Gesicht lag noch der Abdruck von Noas Hand, als sie die Dunkelkammer verlassen und Gilbert verabschiedet hatten. Er wollte zu einem klassischen Konzert in die Stadt fahren. Kat war noch nicht zurück, aber sie hatte den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen.
    David war Noa nach oben gefolgt, aber die Tür

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