Whisper
an jenem Nachmittag vor dem Dachboden im Haus.
Mit einem Satz war David bei ihm, zog ihn vom Rollstuhl hoch und hielt ihn fest. »Ist gut, Krümel. Niemand tut Mama was. Ist gut. Ist gut.«
Noa war aufgestanden, aber David gab ihr ein Zeichen, zu warten. In seiner Umarmung wurde Krümel augenblicklich ruhiger. »Ahii guuu, Ahii guu, Maaaa ruuu«, brabbelte er leise vor sich hin.
Noa krampfte die Finger ineinander. Es war nicht richtig gewesen, Marie auszufragen – nicht hier, nicht jetzt. »Es tut mir Leid, Frau Schumacher«, brachte Noa hervor.
Maries Lächeln hatte etwas Tapferes. »Es ist schon gut. Ich weiß, dass du es nicht böse meinst. Sicher würde auch ich diese Fragen stellen, wenn ich das Haus gemietet hätte. Aber glaube mir, ich kann dir keine Antworten geben. Niemand hier im Dorf kann das. Es hat keinen Zweck, Dinge aufzurühren, die schon vor Jahren nicht geklärt werden konnten. Lasst die Dinge ruhen, ich bitte euch.«
Draußen vor dem Küchenfenster ertönte das Geräusch des anspringenden VW-Busses.
»Ich fahr dann mal in die Stadt«, sagte David und löste sich sanft von seinem Bruder.
Noa folgte ihm hastig aus der Küche und im Hausflur nahm David sie in den Arm. Er drückte sie an sich, so fest, dass es ihr beinahe den Atem nahm. Dann schob er sie von sich und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Er flüsterte ihren Namen, der fremd in ihren Ohren klang, fremd und wunderbar wie ein Zauberwort. Als seine Lippen die ihren berührten, schloss Noa die Augen, scheu und gleichzeitig voller Verlangen nach ihm. Sie vergaß, wer sie war und wo, sie fühlte nur noch seinen Herzschlag an ihrer Brust, ein wilder, elektrisierter Rhythmus, während seine Zunge zwischen ihre Lippen glitt, erst sanft und fragend, als koste sie ein fremdes Getränk, aber im nächsten Augenblick fordernd und entschlossen, als wolle er nie damit aufhören, sie zu küssen, zu küssen, zu küssen …
Aus der Küche drang Krümels Gebrabbel, es klang glücklich. »Ich zeige dir einen See, morgen Nachmittag«, rief David ihr im Wegfahren durch das offene Fenster seines VW-Busses zu. Seine hellen Haare flatterten im Wind, Noa stand am Bordstein, neben Esther und Gustaf, dessen weißes Hemd jetzt voller Wagenschmiere war, und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
SIEBZEHN
Einen Menschen so zu lieben, wie er ist, das ist leicht. Schwer ist, einen Menschen so zu lieben, wie er nicht ist. In einem Menschen all das zu sehen, was er sein könnte, aber noch nicht sein kann. Das hat Jonathan einmal zu mir gesagt und heute am See fallen mir seine Worte wieder ein.
Eliza, 3. August 1975
S ie waren zu Fuß gelaufen, Noa und David, gleich nach dem Tapezieren des Zimmers. Eliza hatten sie zurückgelassen, im wortlosen Einvernehmen, nicht über sie zu sprechen, wenigstens für eine Weile die dunkle Vergangenheit ruhen zu lassen. Auch über Robert und Kat, die den gestrigen Nachmittag miteinander verbracht hatten, verlor Noa kein Wort. Der Tag war einfach zu schön dafür und das, was zwischen ihr und David begonnen hatte, zu wunderbar.
Der See lag gleich hinter dem Wald. Er war leicht zu finden gewesen und doch wie von der Welt abgeschnitten – geschützt von Fichten und am Ufer umsäumt von Lupinen, Sumpfdotterblumen und sattlila Blut-weiderich, dessen herzförmige Blätter Noa gerade vorsichtig abgezupft und um Davids Bauchnabel herumgruppiert hatte, um ein Foto davon zu machen. In ihre Mitte, in die winzige Mulde von Davids Bauchnabel, hatte sie eine Sumpfdotterblüte gelegt. Wie eine kleine Sonne hüpfte die Blüte auf und ab, bewegt von den Bauchmuskeln, weil David sich vor Lachen kaum beherrschen konnte.
»Nun mach endlich«, flehte er Noa an, »das Zeug kitzelt wie die Hölle!«
»Sei nicht so zimperlich«, rügte Noa ihn streng, während sie vor ihm kniete, in ihrem olivgrünen Bikini mit dem schmalen schwarzen Gürtelstreifen, den Oberkörper vorgebeugt und diesmal mit ihrer eigenen Kamera in der Hand. Davids Körper, seine samtige, gebräunte Haut, die schlanke Statur mit den sehnigen Muskeln und der länglichen Narbe am Schlüsselbein, hatte sie ebenso verstohlen gemustert, wie sie den ihren preisgegeben hatte: die hervorstechenden Beckenknochen, die schmalen Hüften, den spärlichen Busen unter dem olivfarbenen Bikinioberteil. Aber jetzt war alle Scheu verschwunden. Es fühlte sich an, als wären sie schon immer hier, schon immer zusammen gewesen.
Kichernd zögerte Noa das Scharfstellen des Teleobjektivs
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