Whisper
Davids Bruder mit Kartoffelpüree. Müde sah sie aus, vor allem ihre Augen, unter denen wieder die dunklen Schatten lagen. Ihre Augen waren grün wie Davids Augen, aber sie strahlten nicht, sie sahen aus, als hätte jemand ein Licht dahinter gelöscht – oder vielmehr langsam heruntergedimmt.
Krümel saß im Rollstuhl vor dem Tisch und ließ sich die Löffel in den Mund schieben wie ein Riesenbaby. Er trug eine Latzhose wie Kat, darunter ein rot-weiß geringeltes T-shirt und er erinnerte Noa darin unwillkürlich an Karlson vom Dach – nur dass Krümel keinen Propeller am Rücken hatte, mit dem er fliegen konnte. Glücklich und zufrieden sah er aus, schmatzte und gluckste leise vor sich hin, patschte ab und zu mit den Händen auf den Tisch und lachte über das Grunzen, das von draußen in die Küche drang. Die Tür zum Hof stand offen und in einem kleinen Verschlag sah Noa drei Schweine, die ihre schmutzbefleckten rosa Rücken aneinander rieben und ihre Schnauzen in einen Trog mit Kartoffelschalen drückten. Offensichtlich hatten auch sie gerade ihr Mittagessen erhalten.
»Es war der Hunger«, entschuldigte Marie sich für Krümels Geschepper von vorhin. »Ich war heute spät dran. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten, Noa?«
»Ein Glas Wasser wäre nett«, sagte Noa und verspürte einen Kloß im Hals. Wie um alles in der Welt sollte sie das Thema anschneiden?
»Und, kommt ihr gut mit dem Haus voran?«, fragte Marie, während David jetzt an den Kühlschrank ging und für sich und Noa ein Glas mit Sprudelwasser füllte.
»Es geht ganz gut, danke.« Noa nahm einen Schluck Wasser, sah Marie an und fragte so unvermittelt, dass es sie selbst überraschte: »Eliza Steinberg, das Mädchen aus der Stadt, das früher in unserem Haus gewohnt hat. Was wissen Sie über sie? Warum möchte niemand im Dorf über sie sprechen?«
Marie, die ihren Löffel gerade wieder auf Krümels Mund zubewegte, hielt inne, bis Davids Bruder ungeduldig auf den Tisch schlug und die Kaffeetasse darauf zum Beben brachte. Während Marie ihm den Löffel in den Mund schob, wechselte sie einen Blick mit David. Es lag kein Vorwurf darin, eher etwas Gehetztes wie bei einem Tier, das man in die Enge gedrängt hatte.
»Ich habe David schon gesagt, ich weiß nicht viel über sie. Sie waren Mieter des Ferienhauses, so wie ihr es jetzt seid. Sie kamen im Sommer her, verbrachten ihre Zeit hier. Und eines Tages reisten sie ab.«
»Aber in der Zeitung stand, dass Eliza verschwunden ist«, beharrte Noa, ohne zu erwähnen, woher sie den Ausschnitt erhalten hatte. »Ich habe einen Artikel gelesen, einen alten Artikel, darin stand, dass das Mädchen im August vor dreißig Jahren in Düsseldorf verschwand. War es derselbe Sommer, in dem sie mit ihrer Familie von hier weggereist ist?«
Marie, die bis jetzt neben Krümel gestanden hatte, setzte sich, als hätte ihr jemand eine schwere Last auf die Schultern gedrückt. Als sie Noa ansah, glitzerten Tränen in ihren Augen. David, der an der geschlossenen Kühlschranktür lehnte, machte ein erschrockenes Gesicht.
Noa, die nicht wusste, woher sie den Mut zu ihrer Befragung genommen hatte, kam sich plötzlich grausam vor. Ich dringe hier ein in die Wohnung einer fremden Frau und quäle sie mit Fragen wie ein Inspektor. Ich habe kein Recht dazu. Noa sah David an. Ich habe kein Recht dazu, wiederholte sie in Gedanken, und David nickte, kaum merklich, während Marie den letzten Löffel Püree vom Teller kratzte und ihn Krümel in den Mund schob.
»Eliza«, sagte Marie so leise, dass Noa sie kaum verstehen konnte. »Eliza war das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Aber sie hatte auch etwas Kaltes – was sie fast noch schöner machte. Sie hatte etwas von einer Statue, einer perfekten Statue, aus Glas … oder aus Eis.« Marie lächelte, ein warmes, schmerzerfülltes Lächeln. Dann legte sie den Löffel weg und presste ihre Finger vor die Augen, als wollte sie eine quälende Erinnerung wegdrängen. »Bitte Noa, stell mir diese Fragen nicht. Auch ich habe den Artikel in der Zeitung gelesen – damals, als ihr zwei noch nicht mal auf der Welt wart. Ich weiß nicht, was mit Eliza geschehen ist – und ich glaube inzwischen auch nicht mehr, dass ich es wissen möchte.«
Vielleicht war es der Blick auf Maries Gesicht, vielleicht war es auch die Spannung, die in der Küche lag. Jedenfalls fegte Krümel den Teller vom Tisch, der klirrend zu Boden fiel, und stieß wieder dieselben lauten und schrillen Töne aus wie
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