Whisper
zum Hof weit geöffnet. Draußen roch es nach Schnaps und Schweiß. Gustaf, Marie und Esther, ein paar andere Frauen und Männer aus dem Dorf standen um eine einfache Holzbank herum. Auch einen Jungen erblickte Noa, sieben, vielleicht acht Jahre alt. Er trug ein Superman-T-Shirt und sein schmales Gesicht umrahmten blonde Engelslocken. »Jetzt, Mama? Kommt es jetzt?«, fragte er die Frau neben ihm und zog ihr an der Schürze. Sein quengelig aufgeregter Tonfall ließ Noa vermuten, dass er diese Frage nicht zum ersten Mal gestellt hatte.
Auch die anderen schienen so sehr mit dem beschäftigt, was kommen sollte, dass sie Noa gar nicht bemerkten. Gerade wollte sie nach David fragen, als sie Thomas Kord das Tier aus dem Stall führen sah. Es war eines der Schweine und sein panisches Quieken fuhr Noa durch Mark und Bein.
Thomas Kord trug einen weißen Kittel, in der Hand hielt er ein Messer, groß und scharf, die silbrige Klinge blitzte in der Sonne auf. Er war der Einzige, der Noa in die Augen sah, sein Blick war hämisch und durchdrang Noa fast so sehr wie das Quieken des Tieres.
Es war zu spät, um umzukehren.
Noa sah, wie das Schwein an die Bank geführt wurde, wobei es immer lauter, immer flehender schrie, wie ein Kind, und im selben Moment ertönte von oben aus einem der Zimmer Musik. Rockmusik von Jim Carroll, Noa erkannte das Lied wieder, das David unter ihrem Fenster gesungen hatte, das Lied von dem Engel, das jetzt zum Todesmarsch wurde.
Das wie wahnsinnig zappelnde Schwein wurde von ein paar Männern auf der Bank festgebunden, ein Knüppel sauste auf seinen Kopf nieder und im nächsten Moment durchtrennte der Schlachter mit einem sauberen Schnitt seine Halsschlagader. Blut schoss hervor, in einem wilden Strom und bespritzte Kords weißen Kittel. Auch auf Esthers Hände spritzte das Blut. Sie stand neben dem Schlachter und hielt dem Schwein ein hölzernes Gefäß unter den Hals, um das Blut aufzufangen, wobei sie mit ihrer rechten, bloßen Hand in ruhigen, beinahe sinnlichen Bewegungen in der dunkelroten Flüssigkeit rührte, die in einem schier endlosen Strom aus der Kehle des sterbenden Tieres kam. Während der süße, warme Geruch sich jetzt auf dem Hof ausbreitete und sich Jim Carroll über ihnen die Seele aus dem Leib sang, schrie auch das Schwein weiter. Je mehr Blut floss, desto lauter schien es zu schreien, fast rhythmisch mischte sich sein Quieken in die Musik, in die hämmernden Bässe. Der Supermanjunge drehte sich um, er grinste und streckte Noa die Zunge heraus.
Da endlich fand Noa die Kraft, sich zu bewegen.
Sie stolperte aus dem Hof, zurück durch die Küche und wollte gerade aus der Kneipe laufen, als ihr im Flur der Feuermel der entgegentrat und ihr zur Flucht nur noch die Treppe nach oben blieb. Die Musik kam aus Davids Zimmer, Noa folgte ihr, bis sie an seiner geöffneten Tür ankam. David stand vor dem CD-Player, seine Füße wippten im Takt, er sang das Lied mit, während Krümel am Boden hockte und sich zuckend zur Musik bewegte, mit einem breiten, seligen Lachen auf dem Gesicht.
David sah Noa auf den ersten Blick an, was sie erlebt hatte, lief auf sie zu und nahm sie in den Arm.
»Shit, ich hätte dich warnen sollen«, rief er ihr ins Ohr. »Ich muss hier oben mit Krümel bleiben, er kann das nicht aushalten, das letzte Mal hat es Wochen gedauert, bis er sich von dem Schock erholt hatte.«
Ja, dachte Noa. Das wird es bei mir wohl auch.
Drei Mal drückte David auf die Wiederholungstaste, spielte das Lied neu ab, bis ein Blick aus dem Fenster ihm zeigte, dass das Schlimmste vorbei war.
»Ich muss jetzt zum Dorfplatz«, sagte er. »Helfen das Zelt aufbauen. In der Küche fangen die Frauen mit den Würsten an, ich denke mal nicht, dass du Lust hast, ihnen dabei zu helfen.«
Noa schüttelte stumm mit dem Kopf und kämpfte gegen den Ekel an, der sich in ihr breit machte. Krümel kraxelte auf Knien auf sie zu und dann, in einer plötzlichen Bewegung, umklammerte er ihre Beine, drückte seinen Kopf an ihren Bauch und lachte, lachte …
Noa beugte sich zu ihm herab und streichelte seine Korkenzieherlocken. Weich waren sie, ganz weich, wie der Flaum eines Kükens. Alle Angst wich von ihr und machte einem Gefühl der Zärtlichkeit Platz.
»Hey, Krümel«, sagte David lächelnd. »Schnapp mir nicht mein Mädchen weg, hörst du?«
Als David zum Dorfplatz ging, holte Noa ihre Kamera und ging spazieren. Der Geruch nach Blut schien über dem ganzen Dorf zu schweben und Noa erinnerte sich an
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