Whisper
als hätte sie jemand nach vorne geklappt. Aber vor drei-ßig Jahren war das Mädchen nicht auf dieser Welt gewesen.
Der Pfarrer hatte sich wieder Gilbert zugewandt, der ihn in ein Gespräch über Phantomwesen verwickelt hatte. »Meiner Meinung nach sind Engel oder Geisterwesen durchaus nichts Übernatürliches«, sagte Gilbert, wobei seine Stimme eine halbe Oktave höher rutschte, wie so oft, wenn er die Chance witterte, dass jemand ihn ausreden lassen würde, ohne sich über seine Geschichten lustig zu machen. »In meinem Archiv wimmelt es nur so von Berichten, in denen Menschen verstorbenen Bekannten begegnet sind. Oder in denen Leute Verstorbene völlig real vor sich gesehen haben, ohne zu wissen, dass es sich dabei um Phantome gehandelt hat. Wenn Sie wissen, was ich meine. Eine Geschichte, die mich besonders fasziniert hat, ist anfangs des letzten Jahrhunderts in Paris passiert. Ein junger Maler war auf der Suche nach Motiven. Er ist durch die Stadt geschlendert und hat im Montmartreviertel ein junges Mädchen entdeckt. Es hat an einer Laterne gelehnt und auf dem Maler einen hilflosen, fast verwirrten Eindruck gemacht. Der Maler hat dem Mädchen seine Hilfe anbieten wollen, hat wohl gedacht, das junge Ding hätte sich verlaufen. Aber als das Mädchen zu ihm aufgesehen hat, ist der Maler richtig erschrocken. Ihr Gesicht muss perfekt gewesen sein, schön wie das Gesicht eines Engels. Tja, da hatte er also sein Motiv. Er hat das Mädchen gefragt, ob es ihm Modell stehen würde, und das Mädchen hat Ja gesagt. Ist ihm wortlos in sein Studio gefolgt. Und während der Künstler an ihrem Porträt gemalt hat, saß das Mädchen da, ganz ruhig, die ganze Nacht. Irgendwann hat er sie gefragt, woher sie käme – und eine ganz seltsame Antwort erhalten. Einst wäre sie Skandinavierin gewesen, hat das Mädchen gesagt. Der Künstler hat lachend gemeint, dass sie dann wohl mit Sicherheit auch heute noch Skandinavierin wä-re. Doch die schöne Unbekannte hat nur erwidert, sie wüsste nicht mehr, wer sie eigentlich sei und woher sie käme. Tja …«
Gilbert nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas und warf dem Pfarrer einen kurzen Blick zu. »Jedenfalls war das Porträt im Morgengrauen fertig und der Künstler war sehr zufrieden mit seiner Arbeit. Das Mädchen verschwand ohne ein Wort des Abschieds. Der Künstler eilte ihm nach, aber als er aus der Tür stürzte, war das Mädchen fort. Es hatte sich in Luft aufgelöst.«
»Du lieber Himmel«, sagte der Pfarrer lachend. Er hatte ein intelligentes Gesicht mit einer hohen Stirn und klaren wasserblauen Augen. »Die Geschichte klingt faszinierend, damit könnten Sie glatt meine Kirche füllen. Vielleicht sollten Sie am nächsten Sonntag mal auf meine Kanzel steigen und die Predigt halten, was meinen Sie?«
Gilbert schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, danke. So weit ist es mit mir dann nun doch noch nicht gekommen. Diese Dinge überlasse ich lieber den Profis – wie Ihnen.«
»Glauben Sie denn an Geister?«, fragte Noa den Pfarrer.
»Ich glaube an die Seele, die zum Himmel aufsteigt«, erwiderte er. »Natürlich kenne auch ich Geschichten, wie sie Herr Sonden gerade erzählt hat. Geschichten, in denen der Geist eines Menschen zwischen den Welten steckt, weil es noch etwas zu erledigen gibt, etwas, das ihn hindert, in die Ewigkeit einzugehen. Aber wie Herr Sonden selbst gesagt hat: Es sind Geschichten. Man kann sie glauben oder nicht – und ich denke mal, der größte Teil der Menschheit entscheidet sich für das zweite, ganz nach dem Motto des ungläubigen Thomas, der nur glaubte, was er mit eigenen Augen sehen konnte. Wirklich wissen tut man es wohl nur, wenn man es selbst erlebt – und ich weiß nicht genau, ob ich das möchte.«
Noa nickte langsam. Das Foto von Eliza fiel ihr wieder ein. Wie sie auf dem Dachboden stand, die Arme zum Flug ausgebreitet. Damals war sie noch hier gewesen, auf dieser Welt, in diesem Dorf. Wo war sie jetzt? Was würde Gilbert, was würde der Pfarrer zu ihrer Geschichte sagen – einer Geschichte, die Noa erlebte und die so viele Fragen, so viele Rätsel aufwarf?
»Kannten Sie Eliza Steinberg?«, fragte Noa leise.
»Eliza Steinberg?« Der Pfarrer runzelte die Stirn und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als im Zelt die Musik aufhörte.
»Unser Ehrengast Katharina Thalis«, dröhnte die Stimme des Sängers aus dem Mikrofon, »wünscht sich ein langsames Lied zur Damenwahl. Dann greift also zu, meine Damen, schnappt euch euren
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