White Horse
redet denn von Liebe?«
»Was gibt es sonst noch?«
Sie lacht. »Du stehst auch auf ihn.«
Ich schlürfe meinen Kaffee und lasse die brühheiÃe Flüssigkeit im
Mund ganz langsam abkühlen, nur damit ich nicht zugeben muss, dass sie recht
hat.
Der Umzug in das frühere Internat ist im Nu erledigt. Nick und
Morris helfen mir, die wenigen Dinge zu transportieren, ohne die ich nicht
leben kann. Kleidung, wichtige Papiere, den schlichten Goldring, den mir Sam an
unserem Hochzeitstag an den Finger steckte. Ich denke jetzt nur noch selten an
ihn und schäme mich dafür. Ich könnte mit Nick darüber sprechen, aber ich will
nicht, dass er mich so nackt sieht. Meine Seele ist keine Zeitung.
Ich nehme ein Zimmer im ersten Stock. Es ist ein Raum, in dem dieses
Gefäà nie existierte.
ZEIT: JETZT
In einer vom Tod beherrschten Welt werden immer noch Dinge
geboren: Legenden, Mythen, Horrorgeschichten. Um in diesen Zeiten neues Grauen
hervorzubringen, müssen die Menschen ihre Fantasie nicht sonderlich anstrengen.
Der Mond ist wieder einmal eine schmale Sichel. Er nimmt zu und ab,
ohne Rücksicht auf das Treiben des Planeten, den er umrundet. Er ist ein
unachtsamer Wächter und ein launischer Freund, der die Meeresfluten hin und her
zieht und nicht zugeben will, dass er aus grünem Käse gemacht ist.
Abends versammeln sich die Roma um die Lagerfeuer. Fleisch und
Gemüse brodeln über den offenen Flammen. Ein einsames Akkordeon hält die
bedrohlichen Geräusche der Nacht in Schach. Nach dem Essen wird die Musik
ansteckend â¦
Das WeiÃe Pferd scharrt mit den Hufen und will
uns holen.
⦠und erfasst eine der kauernden Gestalten nach der anderen, bis am
Ende fast alle mitsingen. Als das nächste Lied erklingt, schweigen manche
Stimmen und werden durch andere ersetzt.
Später verstummt die Musik, und Erzähler tragen Geschichten vor, die
nicht von den Klängen des Akkordeons untermalt werden. Oft erzählte Legenden
haben einen ganz eigenen Rhythmus. Die Worte sind glänzend und glatt
geschliffen wie Steine, die unzählige Fluten erlebt haben.
»Ich muss bald fort«, sage ich zu Yanni. »Ich war schon zu lange
hier.«
»Die Frauen hoffen, dass du dein Baby bei uns bekommen wirst.«
Ich schüttle den Kopf, spüre, wie mein Haar hin und her schwingt.
»Ich muss weiter nach Norden.« Yanni hält den Kopf schräg. Das ist
ein Zeichen, dass er nicht verstanden hat. »Norden ist oben.«
»Auf der StraÃe?«
»Ja.«
»Der Weg nach oben ist nicht sicher.«
»Nichts ist heute mehr sicher.«
»Nein. Aber hör dir diese Geschichte an!« Er deutet mit dem Kinn auf
den Erzähler, der so viel Autorität ausstrahlt, dass sich alle Augen im Kreis
ihm zuwenden. Er ist kein groÃer Mann, doch er scheint bis in die Nischen der
Dunkelheit ringsum vorzudringen, mit ausladenden Gesten.
Yanni dolmetscht in holprigem Englisch.
»Er redet von Delphi. Kennst du das?«
Eigentlich habe ich nur von dem berühmten Orakel gehört, aber ich
nicke.
Der Junge horcht einen Moment zu, ehe er weiterspricht. Der ältere
Mann hat die Arme eng an den Körper gepresst, die Schultern hochgezogen, den
Nacken vorgeneigt. Straffe Stimmbänder stoÃen Worte und Sätze aus, die an
Trommelwirbel erinnern.
Er erzählt von Medusa, der Frau mit den Schlangenhaaren, deren
Anblick jeden zu Stein erstarren lieÃ. Als Perseus sie enthauptete, entsprang
ihrem Rumpf Pegasus, das weiÃe geflügelte Pferd, und dessen Bruder, der Krieger
Chrysaor. In der griechischen Mythologie gibt es viele aus unheiligen
Körperteilen geborene Geschöpfe.
Ein düsterer Schatten legt sich über den Kreis der Zuhörer. Es geht
das Gerücht, sagt der Geschichtenerzähler, dass Medusa wiedergeboren ist. Sie
treibt in den Wäldern um Delphi ihr Unwesen und versteinert jeden, der es wagt,
den Blick auf sie zu richten. Alle anderen aber verschlingt sie. Die Wälder
sind voll von Statuen, die einst Menschen mit Hoffnungen und Träumen und
Familien waren. Und seit die StraÃe entlang der Küste durch ein Erdbeben
zerstört wurde, führt der einzige Weg nach Norden über einen gefährlichen Pass,
vorbei an Delphi und damit mitten durch das Reich der modernen Medusa.
»Siehst du? Dieses Gebiet ist nicht sicher.«
Eine Menschenfresserin, die harmlose Wanderer in Steinsäulen
verwandelt.
»Hat
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