White Horse
sie schon mal jemand gesehen?«
Yanni überlegt. »Viele Leute. Mein Onkel. Er flüchtete so schnell
wie möglich. Geh nicht nach Norden. Bleib hier.«
Ich bin schon zu lange geblieben. Es wird höchste Zeit, dass ich
aufbreche. Ich muss Nick finden, bevor unser Kind kommt.
SIEBZEHN
ZEIT: DAMALS
Nick macht wieder eine Liste. Seine alte Gewohnheit.
»Du machst dir Vorwürfe wegen einer Sache, die nicht deine Schuld
war«, sagt er. »Du kannst nichts dafür.«
»Ich habe das Gefäà geöffnet.«
»Die Leute starben schon vorher.«
»Ich weiÃ.«
»Also ist es unlogisch, wenn du ein schlechtes Gewissen hast. Pope
hätte sein Experiment durchgezogen â mit dir oder ohne dich.«
»Ich weiÃ.«
Er macht seine Liste. Ich habe keine Ahnung, was er da schreibt.
»Kannst du schlafen?«
»Ja.«
Er sieht mich forschend an, findet aber keine Lüge in meinen Zügen.
»Was schreibst du da?«
»Jetzt?«
»Das kann keine Einkaufsliste sein. Es gibt nichts mehr zu kaufen.«
»Es ist eine Liste von allen guten Dingen, die mir noch geblieben
sind.«
»Wie zum Beispiel?«
»Wie zum Beispiel du.«
»Warum ich?«
»Ich werde dir eine Liste schreiben.«
ZEIT: JETZT
Meine Wunden heilen. Mein Bauch schwillt an. Mein Kind
strampelt in dickflüssigem Fruchtwasser, ohne etwas von den Sünden der
Menschheit zu ahnen. Es wird nie eine unversehrte Welt kennenlernen, sondern
nur die Fragmente unserer untergegangenen Zivilisation. Mit dem Gott, der durch
Abwesenheit glänzt, rede ich nicht. Stattdessen richte ich meine Gebete an die
früheren Machthaber dieses Landes. Ich bitte um einen sicheren Ort, an dem ich
mein Kind aufziehen kann, um einen Ort, der genügend Nahrung für ein gesundes
Wachstum bietet und an dem normale, vernünftige Menschen leben, die ihm
Vorbilder und Lehrer sein können. Ich will, dass mein Kind erfährt, was wir
einst waren, und wie wir darum kämpften, unsere Menschlichkeit zu bewahren.
Ich bin jetzt ein Geschöpf, in dessen Seele drei Pulsrhythmen
pochen: mein eigener, der meines Kindes und der seines Vaters. Wenn sein Vater
tot wäre, würde ich in meinem Herzen eine Nick-groÃe Leere spüren.
Ich muss gehen.
ZEIT: DAMALS
Der Krieg wird nicht für beendet erklärt. Er hört
irgendwann einfach auf.
Unsere Heimkehrer empfängt Schweigen. An den Docks und Flugplätzen
stehen keine Angehörigen, die sie willkommen heiÃen, nur ein paar Reporter, mit
deren Fragen sie nichts anfangen können. Sie möchten heim, um dort zu sterben,
im Kreis der Familienmitglieder, die das Grauen überlebt haben.
Ein besonders vorwitziger Fragesteller schiebt sein Mikrofon einem
hustenden Korporal entgegen, der so jung aussieht, dass man ihm noch keine
Haare auf der Brust zutraut.
»Sind Sie froh, wieder daheim zu sein?«
Der Soldat bleibt stehen. Er ist zu dünn und zu kriegsmüde für
höfliche Floskeln. »Froh?«
»Wieder daheim zu sein.«
»Meine ganze Familie ist tot. Was glaubst du wohl, wie froh man da
ist?«
»Wie â¦Â«
»Ich will jetzt einen Cheeseburger.«
»Glauben Sie, dass wir den Sieg davongetragen haben?«
Der Korporal stürzt sich auf den Reporter und drückt ihm mit beiden
Händen die Kehle zu. Die beiden stürzen zu Boden. »Ich ⦠will ⦠jetzt ⦠einen â¦
Cheeseburger, du ⦠Arschloch!« Mit jedem Wort donnert er den Hinterkopf des
Reporters gegen den Asphalt. Knochensplitter rieseln in die Blutlache, die sich
langsam nach allen Seiten ausbreitet.
Niemand reiÃt ihn zurück. Niemand ruft ihn zur Vernunft. Einer der
Männer murmelt: »Habe ich eben Cheeseburger gehört?
Ich könnte für einen Cheeseburger töten.« Ein anderer lacht nervös. »Ich
glaube, das hat er gerade getan.«
Wir sehen das in den Nachrichten, gerade als Luke Skywalker
entdeckt, dass Darth Vader sein Vater ist. Zwanzig Leute starren reglos in den
Bildschirm, als die Sondersendung den Film unterbricht. Das Fernsehen hat uns
wieder.
Der Wetterkrieg ist vorbei, und wir haben an die dreihundert
Millionen Bürger verloren. Vielleicht mehr. Vielleicht alle, bevor sich White
Horse ausgetobt hat. Die Verzweiflung packt uns und hält uns in ihren lieblosen
Armen fest.
Hoffnung ist ein Wort, das in veralteten Lexika zwischen hoffen und hoffnungslos vor sich
hin
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