White Horse
gehen mir die Worte verloren. Ich schlucke. Meine Kehle
brennt, als ich einen tiefen Zug dieser reinen Luft nehme.
»Hier leben viele Menschen.«
»Ja. Viele.«
»Wurden sie auch krank?«
Eine Pause, während er in aller Eile meine Worte übersetzt. »Manche.
Nicht so viele wie in Stadt.«
»Das tut mir leid.«
»Viele von meinen Leuten sterben jung.«
Wände und Dächer aus Wellblech sind zu Behelfshütten zusammengefügt,
insgesamt etwa fünfzig. Material, das sich leicht zerlegen und auf Eselsrücken
transportieren lässt. Die Roma besitzen Haustiere, die frei am Rand der Barackensiedlung
umherstreifen, sich aber nie weit von dem Futter entfernen, das sie nicht
selbst suchen müssen.
Yanni bleibt vor einer Behausung stehen, die mit weiÃer Farbe
getüncht ist. »Da drin ist dein Mann.« Er zerrt mich am Ãrmel zurück, als ich
auf den Eingang zustolpere. »Es geht ihm nicht gut.«
Ich komme mir armselig vor, weil ich diesen Jungen belüge. Als
Rechtfertigung sage ich mir vor, dass die Leute hier von Anfang an glaubten,
der Schweizer und ich gehörten zusammen. Ich habe es versäumt, sie aufzuklären.
Mehr nicht. Sie waren da. Sie sahen ihn bluten. Sie hätten die Wahrheit selbst
erkennen können, wenn sie auch in die andere Richtung gedacht hätten. Dass ich
mich mit dem Skalpell zur Wehr setzte. Dass ich ihn zur Hölle schicken wollte.
Der Junge bleibt zurück, lässt mich die Hütte allein betreten. Ein
dünner Vorhang teilt den kaum schuhkartongroÃen Raum in zwei Hälften. Es stinkt
nach Blut, Exkrementen und Tod.
Schritt um Schritt auf den Vorhang zu. Meine FüÃe sind bleischwer.
Er lauert da hinten, der Schweizer Bastard. Seine Stiefelspitzen ragen unter
dem fadenscheinigen Vorhang hervor. Sie bewegen sich nicht.
Ich hoffe, dass er tot ist oder zumindest so nah an der Kante zum
ewigen Schlaf, dass er in Kürze hinüberkippt.
Meine Finger reiÃen den Vorhang zurück, und da liegt er. Ich rechne
fast damit, dass er gleich von seiner Militärpritsche aufspringen wird, um mich
zu erwürgen, aber das tut er nicht. Seine Augäpfel vollführen einen wilden Tanz
unter den dünnen Membranen der Lider. Er atmet flach; seine Brust hebt und
senkt sich viel zu schnell. Die Haut spannt sich wie Pergament über seine Wangenknochen.
Er ist eine Parodie seiner selbst, in feuchtes Wachs geschnitten. Nicht mehr so
männlich. Nicht mehr so furchterregend. Schwach und ausgelaugt. Ein Halswickel
soll das Gift aus dem Körper ziehen, aber die Wunde ist offen und stark
entzündet. Die Infektion hat Besitz von ihm ergriffen. Der Tod lauert.
Schleicht näher.
Zu langsam.
Ich habe mich so sehr bemüht, gut zu sein, Mensch genug zu bleiben,
um mich in jenen stillen Momenten, wenn ich mit den Stimmen in meinem Kopf
allein bin, wiederzuerkennen. Aber die Götter dieses Landes wollen mich
entweder auf die Probe stellen oder mir etwas sagen, denn sie haben dicht neben
meine Hand ein dünnes, mit einer gestreiften Hülle bezogenes Kissen platziert.
Tu es, sagen sie. Bring
ihn um. Befreie die Menschheit von ihm, bevor er noch einmal die Chance
bekommt, dich zu töten. Meine Finger zucken begierig.
Das Kissen ist in meinen Händen, dann nicht, dann doch wieder. Meine
Hände verändern unentwegt den Ablauf des Stücks. Es wäre so leicht, ihn auszulöschen.
Einmal lang und kräftig nach unten pressen, und es gäbe eine Sorge weniger auf
der Welt. Erlösung. Ich muss nur handeln.
Aber ⦠aber â¦
Leg das Kissen quer über sein Gesicht und lehne dich zurück wie auf
einer Mauerkante. Sachte. Tu so, als sei die Blechwand ein Schaufenster voll
von schönen Dingen. Zähl die Münzen in deiner Tasche und such dir etwas aus,
zur Belohnung, dass du es so weit geschafft hast. Währenddessen überschreitet der
Schweizer endlich die Grenzlinie. Wählt den Tod.
In meinem Innern prallen tektonische Platten zusammen, reiben
aneinander, kämpfen um die Vorherrschaft. Töten oder nicht töten? Das ist die
Frage an euch, meine imaginären Freunde. Ich schiebe das Kissen weg von mir,
lockere meinen festen Griff, senke es auf das schweiÃnasse Gesicht des
Schweizers. Die Stoppuhr in meinem Kopf beginnt zu ticken. Ich brauche drei
Minuten, vielleicht vier.
DreiÃig Sekunden. Die schlaff herabhängenden Hände verkrampfen sich,
als er Luft zu holen
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