White Horse
schimmelt.
Auf einem Dach in schwindelnder Höhe beobachten Nick und ich,
wie die Nacht heraufzieht. Sie trägt eine lange, mit unzähligen funkelnden
Sternen besetzte Schleppe. Von hier oben sieht die Welt fast normal aus.
Stutzig macht nur, dass keine Autos durch die eisigen StraÃen gleiten, und der
Verstand wispert: Nichts ist mehr in Ordnung auf dieser
Welt.
»Und du hast wirklich keine Höhenangst?«, fragt er.
»Nein. Ich bin noch nie von irgendwo herabgestürzt. Deshalb sind
Höhen bei mir nicht als Gefahr gespeichert.«
Er nickt. »Eine gute Einstellung. Viele meiner Patienten leiden
unter Höhenangst. Oder sie fürchten sich vor weiten Plätzen. Ich sehe â oder
sah â ständig Leute, die Angst vor dem Leben hatten. Ich hätte sie am liebsten
geschüttelt und ihnen eingehämmert, dass es keine Garantien gibt, die über den
Augenblick hinausgehen.«
»Aber?«
Er lächelt ironisch. »So etwas steht in keinem Psychologen-Lehrbuch.
Unsere Aufgabe ist es nicht, die Klienten an den Rand der Verzweiflung zu
treiben.«
»Auch dann nicht, wenn es zu ihrem Besten wäre?«
»Meine Klienten wehren sich oft gegen das, was zu ihrem Besten wäre.
Wie die meisten Menschen gehen sie Schwierigkeiten gern aus dem Weg. Sie finden
es bequem, einmal die Woche in die Therapie zu kommen. Eine vertraute
Gewohnheit. Selbst wenn sie dafür hundert plus Dollar pro Sitzung hinblättern
müssen.«
»War ich auch so bequem?«
Er wendet sich mir zu, aber ich sehe ihn nicht an. Lasse meine
Blicke über die Stadt schweifen. Das ist bequem, vertraut, sicher. Nick macht
mich unsicher.
»Du hättest mir ganz einfach die Wahrheit sagen können. Ich war auf
deiner Seite.«
»Es klang so verrückt.«
»Hey, das Verrückte ist mein Alltag. Ich sehe Frauen, die ihre
ScheiÃe in Plastikbeutel schaufeln und wiegen, um ganz sicher zu gehen, dass
alles, was vorne reingeht, hinten wieder rauskommt. Ich sehe Männer, die sich
die Nächte mit Internetpornos um die Ohren schlagen, obwohl im Zimmer nebenan
eine schöne Ehefrau schläft. Sie leben so tief in ihren Fantasiewelten, dass
echte Frauen sie nicht mehr antörnen. Ich sehe Kids, die sich selbst verletzen,
um einen tieferen Schmerz auszublenden, oder Kids, die sich selbst verletzen,
weil das ihre Freunde auch machen und sie dazugehören möchten. Es gibt so viele
Dinge, die verrückt klingen. Aber dass plötzlich ein Gefäà in deiner Wohnung auftaucht,
das dir nicht gehört? Das ist einfach nur kriminell, nicht verrückt. Verrückt
war, dass du mich wegen dieser Sache belogen hast â obwohl ich dir helfen
wollte. Obwohl du mich dafür bezahltest, das Problem zu lösen. Du hast dein
Geld zum Fenster hinausgeworfen. Das nenne ich verrückt.«
»Verstanden. Ich bin verrückt. Du musst es wissen, du bist der
Experte. Willst du, dass ich mich selbst ans Kreuz schlage, oder übernimmst du
das?«
»Komm, Zoe â¦Â« So aus der Nähe betrachtet wirkt er groà und
breitschultrig. Wenn er wollte, könnte er mich mit seinen muskelbepackten Armen
ohne Weiteres erdrücken. Und vielleicht würde mir das gefallen.
»Ach, lass mich einfach in Frieden.«
Ich pirsche mich an die Tür heran, drücke die Klinke nach unten und
stoÃe auf Widerstand. Das Gebäude hat zwei Eingänge auf dem Dach â oder
Ausgänge, je nachdem, wie man es betrachtet. Einer wird nachts zugesperrt,
damit wir nur den anderen bewachen müssen. Morris hält nichts davon, beide
abzuschlieÃen, weil das in einem Notfall ungünstig wäre.
»ScheiÃe.«
Er stöhnt. »Hören wir auf zu streiten! Wir stehen dicht vor dem Ende
der Welt.«
Seine Worte lassen meinen Zorn verfliegen. »Du hast recht.«
»Sag das noch einmal!«
»Du hast recht.«
»Wie immer.«
»So weit würde ich nicht gehen.«
»Du wirst deine Meinung noch ändern.«
Das ist beinahe ein Flirt, nur dass keiner von uns lächelt.
Lichtjahre entfernt jagt ein Stern durch die Weiten des Alls.
»Ich will nicht wie Chicken Little sein«, sage ich. »Ich will mir
nicht, nur um recht zu behalten, ständig wünschen, dass der Himmel einstürzt.«
»Es wird alles wieder gut.«
»Wirklich?«
»Willst du die Wahrheit hören?«
Ich nicke.
»Ich weià es nicht. Ich glaube es nicht. Oder wenn alles
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